Es war schon ungewöhnlich, dass ein Stolperstein herausgebrochen und gestohlen worden war. Zufällig war er vor einigen Monaten bei einer Personenkontrolle im Zug bei Göttingen von der Polizei aufgefunden und sichergestellt worden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch.
Nun konnte Regina Schiffs Stein in der Parkstraße 31 am Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus in einer kleinen Zeremonie wieder eingebaut werden. An ihr nahmen u. a. der Steinpate und ehemalige Oberbürgermeister Bertram Hilgen und kleine Delegationen des Mädchenhauses und der Albert-Schweitzer-Schule teil, die für Pflege des Steins sorgt.
Wie in den letzten Jahren auch folgten zahlreiche Menschen unserer Aufforderung, an diesem Tag die Steine in der ganzen Stadt zu säubern und zu schmücken.
Vor 80 Jahren, am 9. Dezember 1941 fand die erste Deportation von Jüdinnen und Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel statt. Aus diesem Anlass riefen wir zum 9. Dezember 2021 gemeinsam mit weiteren Initiativen zu einem Gedenkgang auf, den wir organisierten: von der Schillerstraße, wo sich das Sammellager für die Deportierten befand, zum Hauptbahnhof, wo das Mahnmal "Gedächtnis der Gleise" des Kasseler Künstlers Horst Hoheisel daran erinnert. In unserem Aufruf, dem etwa 200 Menschen aus Stadt und Region folgten, heißt es dazu: "Wir wollen damit der Opfer gedenken, dafür eintreten, dass sich solche Verbrechen nicht wiederholen, und zeigen, dass wir jeder Form von Rassismus, Antisemitismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit aktiv entgegentreten."
Gunter Deminig verlegt mit Mitarbeitern des Baiuhofs die Schwelle vor der JVA. - Die Schwelle ist verlegt.
Es war der Wunsch des Leiters der Justizvollzugsanstalt in Wehlheiden, unmittelbar an der JVA an die Karfreitagsmorde 1945 zu erinnern, denen 12 Häftlinge zum Opfer fielen. Aus seinem Vorschlag, dort Stolpersteine zu verlegen, entstand schließlich die Idee, der Ermordeten mit einer Stolperschwelle zu erinnern. Gunter Demnig selbst – unterstützt von Mitarbeitern des städtischen Bauhofs – baute sie am 29. Juni 2021 im Rahmen einer feierlichen Einweihung ein, an der zahlreiche Interessierte aus Stadtpolitik und –gesellschaft teilnahmen. Mit der Schwelle können (anders als mit Stolpersteinen) auch die bis heute namenlosen Opfer des NS-Terrors eine Würdigung finden. Auf ihr heißt es:
KARFREITAG – 30 . MÄRZ 1945 – 12 GEFANGENE ERMORDET
AUF DEM WEHLHEIDER FRIEDHOF VON GESTAPO ERSCHOSSEN UND VERGRABEN
SIE GEHÖRTEN ZU TAUSENDEN AUS VIELEN NATIONEN, DIE HIER 1933 – 1945
AUS POLITISCHEN, RASSISTISCHEN UND RELIGIÖSEN GRÜNDEN INHAFTIERT WAREN UND ENTRECHTET UND GEDEMÜTIGT WURDEN
ZUR ERINNERUNG UND MAHNUNG
Zahlreiche Besucher/innen nahmen Anteil - Der Leiter der JVA Uwe Meister spricht - Marianne Hornung-Grove liest die Namen der Ermordeten
Neben unserem Vorsitzenden Jochen Boczkowski sprachen u. a. Justizministerin Eva Kühne-Hörmann und der Leiter der JVA Uwe Meister. Sie alle betonten, wie wichtig solche Orte der Erinnerung für ein demokratisches und rechtsstaatliches Gemeinwesen seien – gerade angesichts der aktuellen Bedrohung von rechts. Die HNA berichtete ausführlich.
Jochen Boczkowski spricht zur Erföffnung - Justizministerin Eva Kühne-Hörmann - HNA-Artikel vom 30.6.2012
Die Namen der Opfer, an die die Stolperschwelle erinnert sind:
Battista Barachetti aus Italien, geb. 1922
Alex Bouch aus der Ukraine
Pierre Bourgeois aus Frankreich
Henryk Kdazokowski aus Polen, geb. 1917
Krigo Schlachosvi aus der Ukraine
Wolfgang Schönfeld aus Kassel, geb. 1917
Peter Steier aus Kaiserslautern, geb. 1891
Ludwig Ziokowski aus Polen, geb. 1926
Und vier unbekannte Männer
Mehr zu den Karfreitagsmorden.
Nachmittags verlegte Gunter Demnig noch 13 weitere Stolpersteine in der Innenstadt:
Für die 1941 in Hadamar ermordete Wilhelmine Freckmann in der Erzbergerstraße 41 unter der Beteiligung ihrer Nichte Gertrud Freckmann-Cordes, die die Verlegung angeregt hatte, und ihres Neffen Klaus Freckmann, der auch zur Verlegung sprach (Foto unten rechts).
In der Gießbergstraße 8 für Meta Feilchenfeld, JG 1904, deportiert und ermordet 1942 Sobibor, Ruth Feilchenfeld, JG 1934, deportiert und ermordet 1942 Sobibor und Ludwig Feilchenfeld, JG 1899, geflohen 1939 nach Palästina sowie Heinrich Köhler, JG 1869, deportiert 1942 Theresienstadt, ermordet Treblinka.
In der Wolfhager Straße/Ecke Gießbergstraße für Simon Wertheim, JG 1889, Haft 1942 Breitenau,ermordet KZ Sachsenhausen, Johanna Wertheim geb. Kohlhagen, JG 1896, deportiert 1942 Sobibor ermordet, Irmgard Wertheim, JG 1921, Flucht 1937 USA und Emma Kohlhagen, JG 1874, deportiert 1942 Theresienstadt, ermordet Treblinka.
Und schließlich auf der gegenüberliegenden Straßenseite Wolfhager Straße 14 für Amalie Kaschmann, JG1871, deportiert und ermordet 1942 Theresienstadt, Frieda Horwitz geb. Kaschmann, JG 1897, deportiert und ermordet 1942 Theresienstadt, Johanna Kaschmann, JG 1898, deportiert 1942 Terezin, ermordet 1944 Auschwitz und Rosi Kaschmann, JG 1900, deportiert und ermordet 1942 Sobibor.
Der Kantor der jüdischen Gemeinde Jakob Axenrod begleitete alle Verlegungen mit einem Gebet (Fotos oben und unten links).
Sie sollten bereits im Dezember des letzten Jahres verlegt werden: mehr als 50 neue Steine an 15 Verlegeorten in mehreren Teilen der Stadt. Beschränkungen auf Grund der Pandemie verhinderten dies, und auch die dann ganz bewusst für die Tage vom 6. bis zum 8. Mai 2021, dem Tag der Befreiung, geplanten üblichen Veranstaltungen konnten zunächst nicht von der Stadt genehmigt werden; wohl konnten aber Versammlungen unter freiem Himmel nach Artikel 8 des Grundgesetzes stattfinden. Und so fungierte Jochen Boczkowski diesmal ganz offiziell als Versammlungsleiter, der zu Beginn jeder Verlegung auf die Einhaltung der uns auferlegten Auflagen hinwies. Ordner unterstützten dies, Polizeistreifen begleiteten die Verlegungen wohlwollend zu unserem Schutz.
Die Verlegungen waren eindrucksvolle Demonstrationen zum Thema „8. Mai Tag der Befreiung vom Faschismus und Stolpersteine Gedenken“, wie es in unserer Anmeldung hieß.
Am Donnerstag und Freitag galten Erinnerung und Gedenken ausschließlich jüdischen Opfern: Bella und Fritz Lentschner mit den Kindern Rosa, Ida, Nuomi, David, Isaak, Josef, Ruth, Heinz, Frieda und Hermann (Tränkepforte), Johanna und Louis Magnus (Mittelgasse), Mina und Willi Engelbert mit den Töchtern Frieda und Edith (Kurze Gasse), Sophie und Sally Adler mit den Kindern Ilse, Kurt Simon und Rolf, Marianne Spangenthal mit den Söhnen Kurt und Ludwig (Hoffmann-von-Fallersleben-Straße), Selma und Karl Hase mit dem Sohn Rolf (Technik-Museum), Rosa und Isaak Goldberg mit den Kindern Sigrid und Manfred (Königstor), Emmy und Ernst Rubensohn (Terrasse), Flora und Sally Frankenthal mit dem Sohn Gerd Siegfried, den Witwen Clara Mosbacher (Querallee) und Bertha Adler (Meysenbugstraße) und schließlich für David Bloch und den Sohn Paul (Lindenstraße). Vom Arbeiter über den „kleinen“ Geschäftsmann bis zum wohlhabenden Fabrikanten wurde die ganze Bandbreite der jüdischen Gesellschaft unserer Stadt vor ihrer Zerstörung sichtbar.
Die Steine für die Familie Lentschner - Verlegung für Pfarrer Zimmermann mit Jochen Boczkowski
Der Sonnabend war dem evangelischen Pfarrer Hans-August Zimmermann gewidmet (Pfarrstraße), dem Opfer der Krankenmorde Wilhelm Kleinschmidt (Kaufunger Straße) sowie dem kommunistischen Widerstandkämpfer Eduard Wilhelm (Firnskuppenstraße).
Ohne die fachgerechte Verlegung aller Steine durch den städtischen Bauhof, wäre all dies nicht möglich gewesen. Ihm gilt unser besonderer Dank.
Bernd Scheffer, der Biograf Zimmermanns - Jochen Boczkowski am Stein für Wilhelm Kleinschmidt - Philipp Hoffmann singt ein Arbeiterlied für Eduard Wilhelm - Der Kantor J. Axenrodt sprach für alle jüdischen Opfer ein Gebet.
Weitere Fotos von den Stolpersteinverlegungen an den Tagen vom 6. bis 8. Mai 2021 gibt es hier.
Nachdem er mehrere Jahre wegen der Baumaßnahmen der Evangelischen Bank am Ständeplatz eingelagert war, wurde der Stolperstein für die in Hadamar ermordete Luise Nauhaus am 15. April 2021 wieder fachgerecht verlegt. An der kleinen Zeremonie aus diesem Anlass nahmen u. a. der Generalbevollmächtigte der Bank Olaf Kreuzberg, Dorothea Hübner, eine Verwandte der Ermordeten, Claudia Römer vom Friedrichsgymnasium, das die Pflegepatenschaft übernimmt, Vertreter der beteiligten Firmen und unseres Vereins teil. Jochen Boczkowski skizzierte noch einmal eindringlich das Schicksal von Luise Nauhaus als eines von mehr als 70.000 Opfern der „Aktion T4“, des Massenmordes an Behinderten und Kranken.
Oben links: Claudia Römer vom Friedrichsgymnasium und Edeltraud Boczkowski bringen den Stein wieder auf Glanz. - Oben Mitte: Jochen Boczkowski und die Verwandte von Luise Nauhaus Dorothea Hübner - Oben rechts: Jochen Boczkowski mit dem Gedenblatt für Luise Nauhaus. - Unten Mitte: Jochen Boczkowski und der Vertreter der Evangelischen Bank Olaf Kreuzberg