Albert Wesemeyer

Landaustraße 3

Albert Wesemeyer 1981 (StadtA KS INN Nr. 568, Foto: Wolfgang Prinz)
Albert Wesemeyer 1981 (StadtA KS INN Nr. 568, Foto: Wolfgang Prinz)

Stolpersteine erinnern an Verfolgte unter der NS-Diktatur. Mit ihren Inschriften geben sie Hinweise auf ein individuelles Schicksal in dieser Zeit. Die Inschriften enden daher spätestens mit dem Jahr 1945 – auch die Inschrift für Albert Wesemeyer. Die biografischen Anmerkungen hier zu einem verfolgten Sozialdemokraten können sich aber nicht darauf beschränken. Albert Wesemeyer, der Typ des „geistig aufgeschlossenen, belesenen, an Kunst, Musik und Literatur interessierten Arbeiters“ (Boll), erfuhr unter der SED-Diktatur eine zweite Verfolgung als Sozialdemokrat, wurde unter ihr acht Jahre lang inhaftiert und brutal gequält. Dafür schien sich aber, als er nach Kassel zurückkehren konnte, kaum jemand zu interessieren. Am fehlenden Verständnis für seine zweite Verfolgung litt er lange. Albert Wesemeyers Schicksal ist bei den bislang verlegten Stolpersteinen in Kassel einzigartig.

 

Am 25.8.1904 in Burg bei Magdeburg geboren erfuhr Albert Wesemeyer in der Braunschweiger Arbeiterbewegung seine politische Sozialisation. Der frühe Tod des Vaters im Ersten Weltkrieg (1915) hatte ihn zum Pazifisten gemacht, Flugblattaktionen gegen den Krieg führten beinahe zum Verweis von der Oberrealschule. Ohne die finanziellen Möglichkeiten zu einem Studium absolvierte er eine Lehre als Präzisionsmechaniker und schloss sich der Gewerkschaftsbewegung und zunächst der Unabhängigen Sozialdemokratie an. Einen Orientierungsrahmen boten dem vielfältig geistig interessierten und belesenen Wesemeyer auch linkssozialistische Kreise wie der Internationale sozialistische Kampfbund (ISK). Die aus seiner Sicht auffällige Lücke zwischen demokratischem Anspruch und autoritärer Politik in Russland ließ ihn auf Distanz zu den Kommunisten gehen, mit denen man, wie er meinte, nicht diskutieren könne. 

Briefkopf der Chassalla Schuhfabrik (Sammlung des Verf.)
Briefkopf der Chassalla Schuhfabrik (Sammlung des Verf.)

Seit 1926 war Albert Wesemeyer in Kassel als Untermieter unter verschiedenen Adressen gemeldet. 1930 übernahm er hier den Posten des Chefmechanikers der Chassala-Schuhfabrik in der Sickingen Straße und damit die volle Verantwortung für das Funktionieren des Maschinenparks. Im gleichen Jahr heiratete er in Mühlhausen die am 1.10.1900 geborene Margarete Jungklaus. Das Ehepar bezog eine Wohnung in der Landaustraße. Wehmeyers politisches Betätigungsfeld waren die Gewerkschaft der Schumacher, der örtliche Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, wo er zum militanten Kern gehörte, der sich zum Beispiel unter dem sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Hohenstein an Waffen ausbilden ließ. Als Wesemeyer 1933 die Möglichkeit hatte, an der Akademie für Arbeit in Frankfurt zu studieren, um eine Leitungsposition in der Gewerkschaftsbewegung übernehmen zu können, machte dies die Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten unmöglich.

 

Die große Mehrheit (nicht nur) der Kasseler Sozialdemokratie war gegenüber dem aufsteigenden Nationalsozialismus spätestens seit 1932 wie gelähmt. Mit der 1933 einsetzenden Gewalt gegen sie und ihrer Verfolgung zogen sich Sozialdemokraten auf den „Zirkel einer Solidargemeinschaft“ (Kammler) zurück, der es darum ging, die NS-Diktatur zu überleben, um nach deren Ende an der Wiedererrichtung einer Demokratie mitwirken zu können. Albert Wesemeyer gehörte allerdings zu den wenigen Kasseler Sozialdemokraten, die aktiv im Untergrund Widerstand leisteten. Die Tätigkeit als Kurier zwischen Kassel, Chemnitz und dem Parteivorstand im Exil in Prag wurde ihm zum Verhängnis. Bei einem Treffen von Kurieren in Weißenfels an der Saale wurde er verhaftet und wochenlang in Untersuchungshaft gehalten, wobei er vergeblich mit mehrfacher Folter dazu gebracht werden sollte, weitere Namen zu verraten. Am Ende der anschließen Gerichtsverhandlung standen vier Jahre Zuchthaus, von denen er drei Jahre und sechs Monate im „Roten Ochsen“ in Halle verbüßte – mitunter in Einzelhaft.

 

Zusammen mit vier weiteren politischen Häftlingen arbeitete Wesemeyer auf Anraten und mit Hilfe eines Vollzugsbeamten in einem dem Zuchthaus angeschlossenen Forschungsbüro an der Konstruktion eines Maschinengewehres und wurde von der Wehrmacht unmittelbar bei seiner Entlassung aus der Haft zur weiteren Arbeit in diesem Büro dienstverpflichtet. Wahrscheinlich bewahrte das ihn vor der weiteren Haft in einem Konzentrationslager oder dem Dienst in einem Strafbataillon. Als das Büro nach Kassel verlegt wurde, kehrte er für die meiste Zeit des Krieges wieder nach Hause zurück und wohnte nur wenige Häuser von seiner früheren Wohnung entfernt. Bei Kriegsende befand er sich als Volkssturmmann in Sondershausen in Thüringen, wo er noch vor der Kapitulation zusammen mit einem weiteren Sozialdemokraten, zwei Kommunisten und einem liberalen Lehrer den Antifaschistischen Ausschuss gründete.

 

SBZ / DDR

 

„Der größte Fehler meines Lebens war es, das Angebot der Amerikaner auszuschlagen, mit ihnen Thüringen zu verlassen und nach Kassel zurückzukehren“, sagte Wesemeyer in einem Interview 1991 (zit. nach Boll, S. 144). In Kassel war er ausgebombt und in Thüringen fühlte er sich gebraucht. Er blieb in Sondershausen und war dort an der Gründung der SPD und des FDGB beteiligt, wurde Kreisvorsitzender der SPD und Mitglied im Erfurter Bezirksvorstandes der Partei. Seinem Hauptinteresse, dem Wiederaufbau des Landes, kam er mit seiner Arbeit in der Thüringer Ministerialbürokratie nach, wobei es zu Konflikten mit der sowjetischen Besatzungsmacht kam, deren Politik Wesemeyers Vorstellungen von Sozialismus nicht entsprachen. Auch nach der Zwangsvereinigung seiner Partei mit der KPD zur SED - der er beitrat, ohne parteipolitische Funktionen zu übernehmen - versuchte er, einen Kreis vetrauenswürdiger Sozialdemokraten weiterhin zusammenzuhalten. Zu den Sozialdemokraten in den westlichen Zonen hatte er Kontakte (vor allem über das Ostbüro) und versorgte sie auch mit Informationen über die Situation in der SBZ. Als Widerstand wollte er das später nicht bezeichnen, auch wenn Sozialdemokraten zum Beispiel 1947 in Erfurt mit Hunderten von Klebenzetteln gegen die Zwangsvereinigung protestierten, auf denen es hieß: „Einigkeit mit Zwang hält nimmer lang“ (zit. nach Bouvier, S. 229). 1947 traf er bei einer Dienstreise in Kassel Kurt Schumacher, der ihn bat, in Thüringen auszuhalten.

 

Wie zahlreiche Sozialdemokraten in Thüringen wurde Albert Wesemeyer als einer ihrer herausgehobenen Vertreter im Frühjahr 1948 verhaftet. Er galt als „Schumacher-Faschist“. Ein sowjetisches Militärtribunal verurteilte ihn unter anderem wegen Sabotage und Spionage nach 22 Monaten Untersuchungshaft zu 25 Jahren Zwangsarbeitslager. Die brutalen Haftbedingungen in den Kellern der sowjetischen Besatzhungsmacht hatten bei ihm zu diesem Zeitpunkt bereits schwere körperliche Schäden verursacht. Er war gezeichnet u. a. von monatelang nächtlichen Verhören bei Schlafentzug am Tag, vollkommen unzureichender Ernährung und katastrophalen hygienischen Bedingungen, langen Phasen der Einzelhaft. Nach dem Urteil im Gerichtssaal in Weimar konnte er sich nur auf allen Vieren fortbewegen. Nicht mehr in der Lage, Zwangsarbeit zu leisten, wurde er in die Haftanstalt Bautzen eingewiesen, aus der er Anfang Mai 1956, nach insgesamt acht Jahren qualvoller Haft vorzeitig entlassen wurde - gezeichnet durch schwere körperliche Schäden wie zeitweiser Lähmung und Blindheit.

 

Kassel

 

Die kurz vor seiner Entlassung erfolgte Aufforderung, in der DDR zu bleiben und einen attraktiven Posten zu bekommen, wenn er der SED beitrete, lehnte Wesemeyer ab und musste deshalb innerhalb von 24 Stunden das Land verlassen. Er folgte seiner Frau, die bereits nach Kassel geflüchtet war. Es sollte fast ein Jahr dauern, bis der inzwischen 52-Jährige wieder halbwegs arbeitsfähig war. Und es sollte noch länger dauern, bis er endlich - und nur mit Hilfe von außen - einen Wiedereinstieg in eine berufliche Stellung fand.

 

Die Rückkehr nach Kassel war mit tiefen Verletzungen verbunden, vor allem auch durch seine eigene Partei, der er weiterhin treu blieb. Er fühlte sich mit Recht von ihr vergessen und litt unter dem Unverständnis und der Ignoranz dem gegenüber, was Menschen wie ihm in der DDR angetan wurde. Jahrzehntelang war er zwar als Zeitzeuge für die nationalsozialistische, nicht aber die stalinistische Diktatur gefragt. Dem versuchte er, durch eine unermüdliche Aufklärungsarbeit entgegenzutreten. Am 8. Mai 1989 würdigte ihn Oberbürgermeister Hans Eichel mit der Verleihung der Stadtmedaille - zusammen mit Paul Blesse, Willi Belz und Erna Paul, die wie er im Widerstand gegen den NS gewesen waren. Am 30. November 2000 starb Albert Wesemeyer im Alter von 96 Jahren. Zum Gedenken an ihn wurde 2016 in Kassel-Wehlheiden ein Gingko-Baum gepflanzt.

Verleihung der Stadtmedaille am 8.5.1989 von links: Paul Blesse, Erna Paul, OB Hans Eichel, Willi Belz, Stadtverordnetenvorsteher Günter Kestner und Albert Wesemeyer (Foto: Haun)

Verleihung der Ehrenmitgliedschaft durch den Verein „Gegen Vergessen - Für Demokratie“ am 29.10.1994 (Archiv der sozialen Demokratie Signatur 6/FOTA069766, Fotograf unbekannt)

Wolfgang Matthäus, Juni 2023

 

 

Quellen und Literatur

 

StadtA Kassel

S1 4403 | Meldekarte | Hausstandsbücher Landaustraße | Adressbücher

Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) bei der Friedrich-Ebert-Stiftung

Brief von Erna Rump-Severitt an Erich Ollenhauer vom 17.7.1957 | Foto Wesemeyer Signatur 6/FOTA069766

 

Boll, Friedhelm: „Ihr könnt doch nicht alle abhauen!“ Verfolgung von Sozialdemokraten unter Hitler und Ulbricht: Das Beispiel Albert Wesemeyers, in: ders. (Hg), Verfolgung und Lebensgeschichte. Diktaturerfahrungen unter nationalsozialistischer und stalinistischer Herrschaft in Deutschland, Berlin 1997, S. 131ff.

Bouvier, Beatrix: Ausgeschaltet! Sozialdemokraten in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR 1945-1953, Bonn 1996

Frenz, Wilhelm / Kammler, Jörg / Krause, Vilmar, Dietfrid: Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Band 2: Studien, Fuldabrück 1987

Kammler, Jörg: Widerstand und Verfolgung – illegale Arbeiterbewegung, sozialistische Solidargemeinschaft und das Verhältnis der Arbeiterschaft zum NS-Regime, in: Volksgemeinschaft und Volksfeinde, S. 325ff.

ders.: Zur historischen Ausgangslage des Arbeiterwiderstandes: Die Kasseler Arbeiterbewegung vor 1933, in: Volksgemeinschaft und Volksfeinde, S. 291ff.

Klein, Ernst: Erinnerung an Albert Wesemeyer, in: Gegen Vergessen - Für Demokratie Nr. 91 (2016), S. 25f. 

 

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