Amalie und Haune Kaschmann sind 1895 als frisch verheiratetes Paar nach Kassel gekommen. Ihre erste Wohnung hatten sie in der Leipziger Straße. Ab 1904 wohnten sie im 2. Stock des Hauses Wolfhager Straße 14 in einer 6-Raum-Wohnung. Am 25. Januar 1895 haben sie in Ziegenhain geheiratet.
Amalie war eine geborene Kaufmann, die 1871 in Ziegenhain zur Welt gekommen ist. Ihre Eltern waren Jeisel und Regina Kaufmann. Sie hatte 3 Geschwister, Karl (*1874, ermordet 1943 Sobibor), Rosa (*1876) und Salli (*1879). Ihr Mann Haune stammte aus Großroppershausen und war 1860 dort geboren. Er hatte 8 Geschwister. Schwester Karoline, JG 1868, verheiratete Eichenberg, ist in Terezin ermordet worden. Die anderen sind ausgewandert, geflohen oder vor dem Völkermord verstorben.
Haune Kaschmann selbst ist 1919 gestorben und in Kassel beerdigt worden. Er war, wie schon sein Vater, Viehhändler. Aufgrund von rechtlichen Beschränkungen und Vorurteilen war der Handel über Jahrhunderte eine traditionelle Einkommensquelle für Juden in Deutschland gewesen, auch nach der Judenemanzipation von 1869. In den ländlichen Gebieten waren Juden sehr stark im Viehhandel tätig. Laut Adressbuch Kassel 1900 waren von 18 Viehhändlern dem Namen nach 15 jüdisch. Darunter auch Hermann Kaschmann, ein Bruder Haunes. Die Krise der Landwirtschaft von den 1870er bis in die 1890er Jahre hatte viele Bankrotte unter deutschen Landwirten zur Folge, von denen manche die von „raffgierigen“ Juden verlangten, angeblich „wucherischen“ Zinsen für ihren Misserfolg verantwortlich machten, obwohl landwirtschaftliche Darlehen aus anderen Quellen oft gar nicht zu bekommen waren. Der Vorwurf, dass die meisten Juden so genannte „Judenwucherer“ waren, stellte einen Grundpfeiler antisemitischer Propaganda dar.
Nachstehend eine Stellungnahme des Ziegenhainer Landrates aus 1933:
„ ... Der Jude ist ruhig, geht seinem Handel nach und findet überall noch Leute, die ihm die Waren abkaufen. Besonders der den Viehhandel betreibende Jude geht nach wie vor seinem Handel nach. Der Landwirt glaubt, ohne den Juden sein Vieh nicht loszuwerden. ... Der Jude hat auf dem flachen Lande nicht nur den Viehhandel sich zurückerobert, sondern er geht auch wieder von Haus zu Haus mit allerlei anderen Waren ... Man könnte fast sagen, er hat seine alte Frechheit zurückgewonnen. ....”
Wider Willen macht der Landrat hier klar, dass die jüdischen Viehhändler eine unverzichtbare ökomische Funktion wahrnahmen.
1933 existierten in Kassel noch 12 jüdische Viehhandlungen. Im Wesentlichen dürften sich die geschäftlichen Aktivitäten der Kasseler Viehhändler auf die Vermittlung und Finanzierung von Geschäften erstreckt haben. Es sind keine Belege vorhanden, dass sie eigene Stallungen unterhalten haben.
Amalie und Haune Kaschmann hatten 6 Kinder. Alle sind in Kassel groß geworden und zur Schule gegangen.
Max ist 1895 geboren und im Weltkrieg I verwundet und dekoriert. Er hat eine kaufmännische Ausbildung zum Handlungsgehilfen absolviert und ist ab 1919 in das elterliche Geschäft eingestiegen. Nach dem Tod seines Vaters im Juni 1919 hat er es zusammen mit seiner Mutter geführt. Am 12. Juli 1938 ist Max im Jüdischen Krankenhaus Frankfurt/Main an Magenkrebs gestorben.
Frieda ist 17. April 1897 geboren. Über Schul- und Berufsausbildung ist nichts bekannt. Sie heiratet 1925 in Kassel den ein Jahr älteren Bankbeamten Albert Horwitz. Frieda und Albert leben fortan in Berlin. Horwitz konnte 1939 von Berlin nach den USA flüchten. Danach ist Frieda wieder zu ihrer Mutter und den Schwestern in die Wolfhager Straße 14 gekommen. Ihr Mann ist 1966 in den Vereinigten Staaten gestorben.
Johanna ist 1898 geboren. Es gibt keine Informationen über ihre Ausbildung. Auf ihrer 1939 ausgestellten Kennkarte wird sie als Haustochter bezeichnet.
Die Zwillinge Rosi und Salli sind am 18 September 1900 geboren. Rosi hat im Haushalt ihrer Eltern bzw. Mutter gelebt. Kontoristin ist als Beruf eingetragen. Bruder Salli war bis Mai 1916 bei seinen Eltern gemeldet. In den Meldeakten ist eine Abmeldung nach Treysa dokumentiert, aber keine Anmeldung. Sein Schicksal bleibt ungeklärt. Auch in den Entschädigungsakten Kaschmann wird Salli mit keinem Wort erwähnt.
Else kommt 1908 zur Welt. Bis 1934 lebt sie bei den Eltern. Nach der Eheschließung mit Max Bachrach, Inhaber einer Großschlachterei, wohnen sie zusammen in der Schlachthofstraße. Sie emigrieren 1938 in die Vereinigten Staaten. Else ist 1989 in New York verstorben.
Die Bedingungen für die Geschäftstätigkeit von Juden verschlechtern sich ab 1933 durch Boykotthetze und behördliche Beschränkungen. Ab 1937 wird die Zulassung zum Viehhandel von der Zuverlässigkeit abhängig gemacht. Deutschstämmig und später deutschblütig müssen die Händler sein. Man kann davon ausgehen, dass spätestens ab 1938 die Geschäfte zum Erliegen kommen. Die Kaschmanns – Mutter Amalie und die Töchter Frieda, Johanna und Rosi – leben von der Substanz. Im Mai 1941 müssen sie die angestammte Wohnung in der Wolfhager Straße 14 verlassen. Im laufe von 16 Monaten werden sie auf behördliche Anweisung von einem Judenhaus ins andere gezwungen. Landaustraße 9, Kölnische Straße 4 und Schillerstraße 7 sind die Stationen.
Von dort ist Rosi mit der Deportation vom 1. Juni 1942 nach Sobibor geschickt und unmittelbar nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet worden. Sie war 42 Jahre alt
Die 71-jährige Amalie musste zusammen mit ihren Töchtern Frieda und Johanna in den Zug nach Theresienstadt steigen. Amalies Tod ist für den 25. September protokolliert. Die Todesfallanzeige nennt als Krankheit: Darmkatarrh.
Nur 4 Wochen später ist Frieda Horwitz im Alter von 45 Jahren am 19.10. ermordet worden. Die Todesursache lautet: Darmkatarrh.
Johanna hat zwei Jahre in Theresienstadt vegetiert, ehe sie im Oktober 1944 mit 1500 anderen Kindern, Frauen und Männern nach Auschwitz geschickt und ermordet worden ist. 46 Jahre alt.
Einzig Else Bachrach, ist von den Kaschmanns aus der Wolfhager Straße übriggeblieben. In den 1950-er Jahren hat sie ein Entschädigungsverfahren als Erbin nach ihrer Mutter betrieben. Für deren Freiheitsentzug ist ihr eine Entschädigung zugesprochen worden.
Jochen Boczkowski im Juni 2021
Quellen:
Kleinert und Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945 – HG Stadt Kassel 1986
Bundesarchiv: Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden
Stadtarchiv Kassel:
Meldeakten, Adressbücher Kassel
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden:
Entschädigungsakten Kaschmann – 518, 57614 + 57615
Helmut Thiele: Die jüdischen Einwohner zu Kassel
Genealogie Joseph Moses Kaschmann aus Roppershausen