Anna Behrens geb. Feldstein

Harry Nathan, Rudolf und Hilde Epstein geb. Behrens

Friedrich-Engels-Straße 2 (Kronprinzenstraße 1/2)

Links: Anna Behrens' Eltern Johanna und Moritz Feldstein

Mitte: Anna Behrens - Rechts: Annas 1902 verstorbener Ehemann Gustav Behrens (alle Fotos von Ralph Epstein)

Anna Behrens stammt aus einer Familie, die bereits spätestens seit etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts in Kassel ansässig war. Ihr „Stammvater“ Meyer Jacob (Feldstein) erscheint in zeitgenössischen Dokumenten als Trödler, einmal auch als Makler. Seine Nachfahren beschritten offenbar zielstrebig den Weg der „bürgerlichen Verbesserung“ im Rahmen der beginnenden Emanzipation und waren im Handwerk als Schneider erfolgreich. Der Anfertigung und dem Vertrieb von Kleidung, von „Civil- und Militärgarderobe“, widmeten sich die Meyer Jacob nachfolgenden Generationen. Annas Bruder Max war schließlich um die Wende zum 20. Jahrhundert als „Fabrikant“ Inhaber einer Uniformfabrik in der Großen Rosenstraße (siehe auch das Gedenkblatt zu Max und Fanny Feldstein).

Anna Behrens wurde am 27. September 1872 als Tochter von Moritz Feldstein und seiner Frau Johanna geb. Katzenstein als einzige Tochter des Paares geboren. Ihre Brüder waren Max (1861-1941), Sally (1863-1928), Otto (1870-1944) und Ernst (1874-1937). Während der älteste Sohn Max wie auch Ernst Mitinhaber des Familienunternehmens Feldstein & Berger waren, betrieb Sally eine Herrengarderobe- und Maßschneidereigeschäft in der Theaterstraße. Otto war offenbar der einzige der Familie, der Kassel verließ.

Im Januar 1891 heiratete Anna Feldstein den 1857 in Osterburg bei Magdeburg geborenen Kaufmann Gustav Behrens, der bei der Firma Adolph Münzer war. Noch im gleichen Jahr wurde am 9. November der Sohn Hermann geboren, am 26. Oktober 1899 die Tochter Hildegard, die vermutlich die erste Frau aus der Familie war, die eine Berufsausbildung erhielt und Buchhalterin wurde. Die Familie wechselte mehrfach die Wohnung und lebte Anfang des 20. Jahrhunderts in der Hohenzollernstraße 137 (Friedrich-Ebert-Straße). Anna Behrens wurde früh Witwe und alleinerziehend, denn ihr Mann Gustav starb bereits 1902. Als „Rentnerin“, wie es Adressbuch heißt, lebte sie zunächst weiter in der Hohenzollernstraße, ehe sie 1908 in die Kronprinzenstraße ½ (Friedrich-Engels-Straße) zog, wo sie jetzt mit ihrer verwitweten Mutter Johanna und dem ledigen Bruder Sally zusammenlebte. Als dieser 1928 starb, ging sein Geschäft an sie über. In ihm übte als Zuschneider Harry Nathan Epstein eine wichtige Tätigkeit aus. Er war am 13. Oktober 1892 in Lauenburg (Pommern) als eines von vier Kindern von Tobias und Johanna Epstein (geb. Sternfeld) geboren und heiratete am 24.4.1929 Anna Behrens‘ Tochter Hildegard, die vermutlich auch für das Geschäft als Buchhalterin arbeitete. Im Adressbuch 1925 erschien es als „S. Feldstein. Kunstwerkstätten für Herren- und Damenkleidung vornehmer Geschmacksrichtung“. Wahrscheinlich wurde es nach dem Tod von Sally Feldstein und der Übertragung an seine Schwester Anna Behrens nun von Harry Epstein geleitet, jedenfalls bezeichnete er sich im Adressbuch als Geschäftsleiter, während seine Schwiegermutter als Geschäftsinhaberin bezeichnet wird. Das Geschäft befand sich in der Theaterstraße in bester Geschäftslage und zwar im Haus Opernplatz 35, dem Palais Waitz von Eschen (heute dort C & A). 1931 wurde Hilde und Nathan Epsteins Sohn Rudolf geboren.

Als die Welt noch in Ordnung war. Auf dem Foto links sind zu sehen (von links): Henne und Ernst Feldstein (Bruder von Anna Behrens, gest. 1937), unbekannt, Fanny Feldstein (Suizid 1941), Anna Behrens mit dem Enkel Rudolf, Max Feldstein (Annas Bruder, Suizid 1941), Hilde Epstein. - Auf dem Fotos rn der Mitte das Ehepaar Epstein mit dem Sohn Rudolf (ca. 1931)  - Rechts die Familie 1936 (Fotos von Ralph Epstein)

Eintrag der Firma im Adressbuch 1925 - Der Opernplatz ca. 1935. Im Hintergrund das Palais Waitz von Eschen, in dessen Gebäude sich rechts in der Theaterstraße die "Kunstwerkstätten" mit einem Ladengschäft befand (auch die Buchhandlung Hühn). (Foto: Carl Eberth, Stadtarchiv Kassel)

Von den Boykottmaßnahmen, die bereits früh 1933 begannen, war ein Geschäft wie S. Feldstein besonders betroffen. In einem Schreiben der die Erben vertretenden Rechtsanwälte aus der Nachkriegszeit heißt es: „Die Fa. S. Feldstein, Kassel, war das erste Herrengarderobe- und Maßschneidergeschäft am Platze und wurde als offenes Ladengeschäft in der Theaterstraße betrieben. Die Kundschaft der Fa. S. Feldstein bestand zum allergrößten Teil aus Nichtjuden, die zu den ersten Kreisen der Stadt zählten und hohe Stellen in der Provinzialverwaltung, der Stadtverwaltung, an den Gerichten und Militärdienststellen bekleideten. Für diese Kunden war es eine Unmöglichkeit, in ein offenes jüdisches Ladengeschäft zu gehen, wo sie von jedermann gesehen werden konnten, ohne zu riskieren, falls sie angezeigt wurden, mit den größten Unannehmlichkeiten in beruflicher Hinsicht rechnen zu müssen.“ Unter dem Zwang dieser Verhältnisse sah sich Anna Behrens bereits im Frühjahr 1934 gezwungen, das Geschäft an den seit 1923 dort arbeitenden Fritz Stephan zu verkaufen, der es unter der Bezeichnung „Feldstein Nachf.“ weiterführte. Auf seinen Briefköpfen warb er mit der langen Tradition eines jüdischen Familienunternehmens: „Maß-Werkstätten für Damen und Herren seit 1818“ hieß es dort. Nach einer eidesstattlichen Erklärung des Käufers zahlte er für das Geschäft 10.000 RM, die allerdings nicht bar ausgezahlt, sondern in eine lebenslängliche Rentenzahlung an Anna Behrens in Höhe von 42 RM umgewandelt wurden. Harry Epstein blieb weiterhin beschäftigt und erhielt von Stephan ein Gehalt von 6.000 RM sowie eine Gewinnbeteiligung. Nach dem Krieg gab der Verkäufer an, der Geschäftserfolg sei auch nach der Übernahme durch ihn geringer als vor 1933 gewesen, „denn die Tatsache, daß Herr Epstein trotz äußerer Arisierung der Firma immer noch in dem Geschäft tätig war und darin eine maßgebende Rolle spielte, blieb nicht verborgen und wirkte sich zwangsläufig im Sinne der damaligen Boykottierung aus.“

Vielleicht war der Verkauf des Geschäfts dafür verantwortlich, dass die Wohnung in der Kronprinzenstraße aufgegeben wurde. Zum 1. April 1934 zog Anna Behrens in das Aschrottheim in der Hohenzollernstraße 178, die Familie Epstein lebte zunächst in der Emilienstraße und dann in der Jordanstraße. Im November 1937 schied Harry Epstein aus der Firma aus. Wenige Tage später, am 1. Dezember, wurde die Familie nach Sydney in Australien abgemeldet. Ihr Sohn Hermann hatte schon zu Beginn der Ersten Weltkrieges Kassel verlassen – wahrscheinlich als Soldat. 1919 zog er nach Hannover. Zufällig ist in einer Akte im Hauptstaatsarchiv der Teil einer Rechnung an Hermann Behrens, zur Zeit Kassel, vom Juni 1937 erhalten, ausgestellt von Feldstein Nachfolger. Das war kurz vor seiner Auwanderung nach London.

Anna Behrens blieb in Kassel und musste im Januar 1939 wahrscheinlich unter Zwang zusammen mit dem Ehepaar Kahn in die Entengasse 22 umziehen, ein Haus, in dem es jüdische und nichtjüdische Bewohnerinnen und Bewohner gab. Am 7. September 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Schon wenig später kam sie am 26. September 1942 im Ghetto ums Leben. Christian Lehmann ist es zu verdanken, dass uns der "Heimeinkaufsvertrag" von Anna Behrens vorliegt. Mit diesem zynischen Instrument wollte man die nach Theresienstadt deportierten Menschen glauben lassen, sie würden in eine Art Altersheim geschickt. Er diente vor allem dazu, die Deportierten ihres noch verbliebenen Geldvermögens zu berauben und musste offiziell mit der Reichsvereinigung der Juden abgeschlossen werden, die dazu gezwungen wurde. Anna Behrens zahlte mehr als 30.000 RM für ihre Deportation (siehe Dokumente unten) und damit die Fahrt in den Tod.

Todesfallanzeige aus dem Ghetto Theresienstadt mit der fingierten Todesursache.
Todesfallanzeige aus dem Ghetto Theresienstadt mit der fingierten Todesursache.

Die Familie

 

Anna Behrens‘ Bruder Max und seine Frau Fanny hatten sich am 15. November 1941 durch Freitod einer weiteren Verfolgung und der Deportation entzogen. Ihre Tochter Ella Mosbacher war bereits 1933 mit ihrem Mann, dem aus Kassel stammenden Arzt Dr. Eduard Mosbacher, nach Belgrad geflohen, wo dieser noch 1941 am jüdischen Krankenhaus praktizierte. Beide überlebten nicht, ihr Schicksal ist jedoch nicht aufgeklärt.

Der Erinnerung an Annas Bruder Otto ist ein Stolperstein in Woltersdorf bei Berlin gewidmet. Durch die freundliche Hilfe dortiger Lokalhistoriker/innen wurde es möglich, seine Biografie in den Grundzügen aufzuklären. Als einziger unter den Geschwistern hatte er Kassel verlassen und war in Berlin als Militäreffektenhändler tätig, als er 1897 die 1868 in Königsberg geborene evangelische Hedwig Petitjean heiratete. Aus der Ehe gingen die Kinder Gotthold und Erwin (beide 1898) sowie Irma (1903) hervor. Erwin fiel 1917 im Alter von 18 Jahren im Ersten Weltkrieg in Nordfrankreich und auch der zweite Sohn, der Ingenieur Gotthold Feldstein, starb bereits 1922 im Alter von nur 24 Jahren. Zu dieser Zeit wohnte die Familie bereits in Woltersdorf bei Erkner im Kreis Niederbarnim in der Nähe von Berlin und Otto Feldstein wird als Kaufmann bezeichnet. Als seine Frau Hedwig 1937 im Alter von 69 Jahren starb, war Otto im Ruhestand mit der Berufsbezeichnung „ehemaliger Versicherungsvertreter“. Noch 1939 wird er als Hausbesitzer geführt, musste gleichwohl aber für ein Zimmer und Kochgelegenheit im eigenen Haus 16.- RM Miete zahlen. 1943 verhaftete ihn die Gestapo und brachte ihn in das Altersheim bzw. Sammellager in der Großen Hamburger Straße in Berlin. Das war die Vorbereitung seiner Deportation von Berlin mit dem Transport I/106, nr. 14391 am 21. Januar 1944 nach Theresienstadt, wo er am 11. Oktober 1944 starb.

Annas Sohn Hermann heiratete in Rio de Janeiro, wo er beruflich für ein englisches Unternehmen tätig war,  und lebte später in der Schweiz. Dort starb er 1972, seine Frau Elly 1980.

Die Familie Epstein baute in Australien eine neue Existenz auf. Sie lebte zunächst in Sydney, später in Brisbane, wo Harry Epstein weiterhin in seinem Beruf erfolgreich war. Er starb 1968, seine Frau Hilde 1995, Rudolf (jetzt Ralph) Epstein absolvierte mehrere Ausbildungen. Mehr als zwei Jahrzehnte arbeitete er in der chemischen Industrie. Danach war er bis zum Alter von 84 Jahren als Taxifahrer tätig. Heute lebt er in Brisbane im Alter von 91 Jahren (2022). Seine Schwiegertochter Vicki nahm über diese Webseite vor kurzer Zeit Kontakt mit uns auf. Ihr und Ralph Epstein verdanken wir die Familienfotos und wertvolle Hinweise zur Familiengeschichte.

 

  

Wolfgang Matthäus

Mai 2022

 

Quellen und Literatur

 

StadtA Kassel

Auswertung der Meldeunterlagen jüdischer Einwohner/innen

HHStAW

Bestand 518 62964 (Entschädigungsakte Anna  Behrens)

Gedenkbücher des Bundesarchivs und der Stadt Kassel

https://www.holocaust.cz/de/opferdatenbank/

Adressbücher Kassel

Helmut Thiele, Die jüdischen Einwohner Kassels

Lothar Löbel, Anny Przyklenk, Siegfried Thielsch, Spurensuche. Schicksale jüdischer Mitbürger in Woltersdorf, Woltersdorf 2011

Mitteilungen von Lothar Löbel und Anny Przyklenk (Woltersdorf), die uns auch einige Dokumente zukommen ließen.

Mitteilungen und Fotos von Vicki und Ralph Epstein (Australien)

 

Hilde und Harry Epstein (ca. 1960 in Australien) - Ralph Epstein (2021)

 

Die Ziele des Vereins

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