Rita KLARMANN wurde ein Jahr nach der Heirat ihrer Eltern als deren einziges Kind am 28.10.1930 in Kassel geboren. Über ihr Schicksal ist wenig bekannt. Vermutlich besuchte sie von der Artilleriestraße aus die nahe Jüdische Volksschule. 1939 wurde ihr Vater verhaftet und starb im KZ Buchenwald. Am 9.12.1941 wurde sie mit ihrer verwitweten Mutter vom Kasseler Hauptbahnhof ins Ghetto Riga deportiert. Dort wurde das 13-jährige Mädchen zuletzt mit seiner Mutter bei einer Selektion am 2.11.1943 gesehen und gilt seitdem als „verschollen“.
Ihre Mutter Berta LILIENSTERN wurde am 27.6.1905 in Neustadt / Hessen als zweites Kind geboren. Ihre 6 Jahre ältere Schwester Irma konnte später in die USA entkommen. Ihre Eltern waren der Sattler Samuel LILIENSTERN und Rosalie LILIENSTERN, geb. Löwenthal aus Neustadt.
In dieser oberhessischen Kleinstadt (knapp 9.000 Einwohner, um 1250 gegründet) gab es seit 1513 auch einige Juden. 1812 wohnten 24 jüdische Familien dort, zu-meist in der Marktstraße. 1905 waren es 108 jüdische Frauen, Männer und Kinder von damals rund 2.000 Einwohnern. 1933 hatte Neustadt mit etwa 120 Juden noch die zweitgrößte Landgemeinde im Kreis Marburg. Gemeinsam mit dem Dorf Momberg bestand von 1830 bis 1938 ein jüdischer Friedhof mit 140 Grabstellen. Unter dem zunehmenden NS-Druck wanderten dann in den 1930er Jahren viele in die USA, Argentinien, Australien und Südafrika aus. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde die Synagogeneinrichtung gestohlen, demoliert und in Brand gesetzt.1942 wurden die letzten 70 jüdischen Einwohner deportiert, sie starben qualvoll im KZ.
Ihr Vater Samuel KLARMANN wurde am 28.6.1901 in Lancut, heute Südostpolen geboren. Die Kleinstadt Lancut (heute 18.000 Einwohner) erlebte eine wechselvolle Geschichte. Als Landsberg gehörte sie bis zum Ende des 1. Weltkrieges zu Österreich-Ungarn. Malerisch im Karpatenvorland gelegen, war sie bekannt für ihr prächtiges Renaissanceschloss in der Stadtmitte und für ihre Barocksynagoge. Sie war seinerzeit auch eine bedeutende jüdische Handelsstadt und hatte seit Mitte des 16. Jahrhunderts eine wachsende jüdische Gemeinde: 1921 betrug der jüdische Bevölkerungsanteil mit knapp 2.000 Menschen 42 % und 1939 waren es fast 2.800. Sie hatte berühmte Rabbis und verschiedene zionistische und chassidische Bewegungen hervorgebracht – bis die Nationalsozialisten die jüdische wie die katholisch-polnische Bevölkerung mit brutaler Verfolgung und Gräueltaten überzogen.
Samuel KLARMANN kam wie viele seiner ostjüdischen Landsleute nach dem 1. Weltkrieg nach Kassel. Da war er knapp 19 Jahre alt und zog 1919 viermal in der Altstadt um: von der Kasernenstraße 2 zur Druselgasse 16, dann Graben 57 und Jägerstr. 5. Im Juni 1920 wohnte er in der Obersten Gasse 4, 1 1/2 Jahre später zog es ihn nach Berlin. Zurück in Kassel, Friedrichstr. 25 war er inzwischen „Kaufmann für Manufakturwaren und Möbel“.
Am 13.9.1929 heiraten Samuel KLARMANN und Berta LILIENSTERN in Kassel und wohnten ab Mai 1930 in der Grebensteiner Str. 21. Gut 5 Monate später wurde ihre Tochter Rita geboren und 12 Monate später zogen sie am 27.11.1931 in die Artilleriestr. 23.
Dokumente aus dem KZ Buchenwald (arolsen archives)
1939 wurde ein schlimmes Jahr für Familie KLARMANN. Für den Vater wurde am 9.9.1939 „Schutzhaft“ angeordnet. Auf einem Dokment ist als Grund der Inhaftierung des Staatenlosen angegeben: „früher Pole“.Er wird als "Erdarbeiter" bezeichnet, was deutlich macht, dass er zum Zeitpunkt der Inhaftierung Zwangsarbeit leisten musste.
Er wurde am 3.10.1939 unter der Häftlingsnummer 7850 im KZ Buchenwald inhaftiert und in den Arbeitskommando „Schachtkommando l“ eingesetzt. Samuel KLARMANN war gerade 39 Jahre alt, als er am 31.7.1940 im KZ Buchenwald „verstarb“.
Seinen Tod verwaltete die SS penibel bis auf den letzten Pfennig, wie Dokumente aus den arolsen archives zeigen. Der Nachlass wurde an die Polizei in Kassel geschickt, um ihn der Witwe zu übergeben. Für diesen Versand wurden der Witwe RM -,65, für die Überweisung des auf seiner KZ Geldkarte befindlichen Betrags von RM 18,86 noch einmal RM -,31.
Samuel Klarmanns Leiche wurde nach Kassel überführt, wo er auf dem alten jüdischen Friedhof in Kassel-Bettenhausen beerdigt wurde.
Abb. unten: Empfangsbescheinigung von Berta Klarmann
Nachweis der Beerdigung von Samuel Klarmann durch den Israelitischen Friedhof (arolsen archives)
Am 14.10.1939 hatten Mutter und Tochter bereits in die Mittelgasse 53, ein sogenanntes „Judenhaus“, umziehen müssen. Am 9.12.1941 wurden Rita mit elf Jahren und ihre verwitwete Mutter Berta, 36 Jahre, mit dem ersten Deportationszug vom Hauptbahnhof Kassel ins Ghetto Riga deportiert. Der Überlebende und Zeitzeuge Horst GOLNIK hat beide dort am 2.11.1943 bei einer Selektion im Zuge der Liquidierung des Ghettos zuletzt lebend gesehen. Sie gelten als „verschollen“, das Amtsgericht Kassel hat Mutter und Tochter zum 31.12.1945 „tot erklärt“.
Die sechs Jahre ältere Schwester von Berta KLARMANN, Irma GOLNIK geb. LILIENSTERN geb. 1899 in Neustadt, überlebte jedoch die Deportation nach Riga mit ihren beiden Söhnen Horst und Werner, während ihr Mann Samuel, Schneidermeister aus Niederzwehren, und ihre Tochter Vera Opfer der Shoah wurden. Irma Golnik stellte nach dem Krieg Entschädigungsanträge. (Fotos unten: Absperrung des Ghettos mit Warnung vor Schusswaffengebrauch und Arbeitskolonne im Ghetto)
Gudrun Schmidt, Oktober 2024
Quellen und Literatur
„Namen und Schicksale der Juden Kassels“, bearbeitet von B. Kleinert und W. Prinz, Hrsg. Stadt Kassel 1986
Arolsen Archives.org. Doc D130529700, 70473323
Hess. Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: HHStAW Bestand 518 Nr. 61921
Bundesarchiv Gedenkbuch: https://www.bundesarchiv.de>gedenkbuch
Alemannia Judaica: https://www.alemannia-judaica.de/neustadt_hessen
Wikipedia: https://de.wikipedia.org>wiki>Lancut