Die beiden Schwestern Lina (Caroline) Lewandowski und Dora Mosberg zogen im Januar 1939 in der Kaiserstraße 13 ein. Sie waren Töchter des Agenten und Kaufmanns Julius Mecca, der wie seine Frau
Olga aus Neiße an der Oder stammte. Dora Mosberg wurde 1877 geboren, ihre Schwester bereits zwei Jahre zuvor. Lina Lewandowskis ältester Sohn Herbert beschrieb in seinem „Schweizer Tagebuch eines Internierten“ 1943 seinen Großvater als eine „Figur von faustischem
Wissensdrang“, den man alles fragen konnte, der seine Heimatliebe an seinen Enkel weiter gab, zugleich aber auch ein bewusster Europäer war, der Kindern und Enkeln vor allem den Weg nach
Frankreich öffnete.
Lina Mecca heiratete 1895 den aus Hamburg stammenden Textilfabrikanten Jakob Lewandowski, dessen Unternehmen, die Wollwäscherei Katz und Sohn, am Rande der Stadt in Bettenhausen an der Losse lag.
Ihr Sohn Herbert kam 1896 zur Welt, eine 1903 geborene Tochter starb bereits im Alter von 12 Jahren, nachdem seit 1911 auch die Zwillinge Hans Wolfgang und Paul zur Familie gehörten. Diese lebte
die meiste Zeit in der Hohenzollernstraße (heute Friedrich-Ebert-Straße), ganz in der Nähe der Kaiserstraße 13. Die Eltern ermöglichten den Kindern, das Christentum näher kennen zu lernen. So
begegnete der älteste Sohn auf einem Progymnasium dem Lehrer Reinhard, der „wundersame Geschichten“ erzählte, „darunter auch die Berichte des Alten und des Neuen Testaments, denn mein Vater war
so weitherzig, dass er mich an der allgemeinen Erziehung fürs erste teilnehmen ließ. So lernte ich unseren Herrn Jesus genauso lieben wie die Erzväter, deren Namen mein Hamburger Großvater meinem
Vater und seinen Brüdern gegeben hatte. Ich sah ihn als guten Hirten mit einem Lämmlein auf dem Arm, und so schloss ich ihn in mein Kinderherz. Auch die Legende der Weihnacht umspann mich mit all
ihrem Zauber, und die gute Mutter versäumte es nicht, jedes Jahr einen wundervollen Christbaum zu schmücken und reiche Gaben im Namen des Christkindleins darunter zu legen. Mein erster
Theaterbesuch galt auch einem Weihnachtsspiel: ‚Wie Klein-Elschen das Christkind suchen ging‘.“
Lina Lewandowskis Vater Julius Mecca starb 1915. Ihr Sohn Herbert wanderte 1923 in die Niederlande aus, heiratete dort seine christliche Frau Martha – eine Liebesheirat, die offensichtlich nicht
traditionellen Erwartungen der Eltern entsprach, die eine Braut aus jüdischen Kreisen mit Mitgift im Auge hatten. Er besuchte die Eltern das letzte Mal 1934 in Kassel und erinnerte sich später an
einen Spaziergang, bei dem er seinen Vater auf dem Königsplatz davon abhalten musste, wütend auf eine Gruppe der Hitlerjugend loszugehen, die laut antisemitische Lieder sang. Seine Mutter Lina
ging mit ihm noch einmal ins Theater. Den unheilbar kranken Vater sah Herbert Lewandowski ein letztes Mal 1935 bei dessen Besuch in den Niederlanden, als er sich für immer von ihm auf dem Bahnhof
verabschieden musste. „Er reichte mir vom Fenster aus noch einmal die Hand, zog dann das Fenster herauf und verschwand. Und ich stand auf dem Bahnsteig und sagte mir stumm: ‚Dieser Mann war mein
Vater, mein inniggeliebter Vater – er geht von mir fort, um allein, einsam zu sterben – und ich stehe hier tatenlos – und lasse den gehen, den mir niemals ein anderer Mensch ersetzen wird.‘ Noch
heute wird es mir kalt und heiß, wenn ich an diesen Abschied im Oktober 1935 in Utrecht denke …“.
1936, im Todesjahr ihres Mannes Jakob, zog Lina Lewandowski mit ihrer einzigen Schwester Dora in eine gemeinsame Wohnung in der Hardenbergstraße.
Dora (Dorothea) Mosberg war 1877 geboren und hatte 1901 den aus Berlin stammenden Kaufmann Theodor Mosberg geheiratet, der 1929 starb. Das Ehepaar wohnte lange Zeit über gleichfalls im Vorderen
Westen, und zwar in der Eulenburgstraße (Lassallestraße). Wie ihre Schwester Lina hatte Dora Mosberg die für eine bürgerliche Tochter im 19. Jahrhundert bestmögliche Bildung erhalten. Der Besuch
der höheren Töchterschule und Kontakte der Familie verhalfen ihr zum Beispiel zu französischen, englischen und auch italienischen Sprachkenntnissen, wie sie auf ihrer Kennkarte 1939 angab, als
sie bereits mit der Schwester in der Kaiserstraße 13 wohnte. Im August 1939 trennten sich beider Wege. Dora Mosberg zog vorübergehend nach Freiburg, kehrte aber bald darauf wieder in die
Kaiserstraße zurück, wo sie bei der Familie Rosenbach wohnte. Wie diese wurde sie am 9. Dezember 1941 nach Riga deportiert, wo sie ums Leben gebracht wurde. Als man sie zur Zwangsverschleppung aus dem Haus abholte, war Dora Mosberg bereits ihres recht
beträchtlichen Vermögens auf der Grundlage von Unrechtsgesetzen beraubt. Dazu zählten Geldanlagen von mehr als 100.000 RM, vom Vater Julius Mecca ererbte Grundstücke in Rothenditmold und auch die
bei einer Spedition eingelagerte gediegene Wohnungseinrichtung, für die es schon länger keine Verwendung mehr gegeben hatte.
Lina Lewandowski gelang es noch im August 1939, kurz vor der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges, nach Enschede in den Niederlanden auszuwandern, wo ihr bereits 1935 emigrierter Sohn Hans lebte.
Für beide bedeutete aber die Flucht in das Nachbarland keine Rettung vor der tödlichen Verfolgung durch das NS-Regime. In Enschede sind an der Dahliastraat 51 Stolpersteine verlegt, die daran
erinnern, dass Wolfgang Lewandowski am 28. Februar 1943 in Auschwitz,
seine Mutter Lina am 14. Mai 1943 in Sobibor
ermordet wurde.
Den beiden anderen Söhnen blieb das Schicksal der Mutter und des Bruders erspart. Als diese beiden deportiert und ermordet wurden, befand sich Paul Lewandowski in den USA in Sicherheit, der
bedeutende Literat Herbert Lewandowski in der Schweiz. Nach Deutschland zurückzukehren, kam für ihn nie in Frage. Gleichwohl besuchte er seine Heimatstadt oft – nicht zuletzt auf Grund einer
Freundschaft mit dem Schriftstellerehepaar Brückner-Kühner.
Wolfgang Matthäus 2014
Literatur
Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13. Geschichten vom jüdischen Leben und seiner Zerstörung im Vorderen Westen, in Kassel und der Region, Kassel 2014
Quellen
HHStAW Abt. 518 (Entschädigungsakte Dora Mosberg) | StadtA Kassel A5.55. Nr. 144, S1 Nr. 160 | http://www.joodsmonument.nl/ | Herbert Lewandowski, Das Märchen vom Monde, Cassel 1920 | Lee van
Dovski, Schweizer Tagebuch eines Internierten, Spiez 1946| ders., Jugendtorheiten. Auswahl aus zwei 1919 und 1920 erschienenen Büchern, Genf 1961 | ders., Lebensbeichte, in: Geschichtswerkstatt
am Friedrichgymnasium, Herbert Lewandowski - Lee van Dovski. Festschrift zum 92. Geburtstag, hg. von Peter Adamski, Kassel 1988 |ders., Kindheitstage in Kassel oder Traum und Trübsal in der
Wolfsschlucht, in: ders., Abschiedsgruß. Erzählungen, Darmstadt 1983 | Schramm-Itzehoe, Im Malstrom der Zeit. Eine Darstellung des dichterischen Lebenswerks von Lee van Dovski, Darmstadt 1967 |
Renate Heuer (Red.): Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 15, München 2007 | Christine Brückner, Lewan, sieh zu!, in: dies.: Überlebensgeschichten, Berlin 1973