Als Dr. Alfred Dellevie am 3. April 1941 starb, bezeichnete ihn der Standesbeamte auf der Sterbeurkunde als „Rechtskundige(n) Hilfsarbeiter Alfred Israel Dellevie. Dieser Eintrag spiegelt die Entrechtung, der der promovierte Jurist seit 1933 bis zu seinem Tod ausgesetzt worden war.
Der am 31. Dezember 1884 geborene Dr. Alfred Dellevie war der Sohn von Adolf Dellevie (1841-1912) und Rosa geb. Ullmann (1852-1939). Die väterliche Familie war seit etwa 1790 in Kassel ansässig, die Mutter stammte aus einer wohlhabenden, gebildeten und musikalischen jüdischen Familie in Würzburg. Alfred Dellevie hatte den Bruder Theodor (1879-1941) und die Schwester Frieda (1881-1975), die Hermann Weiler heiratete.
Alfred Dellevie studierte nach dem Abitur am Wilhelmsgymnasium Jura, schloss das erste Examen 1907 mit „gut“ ab, absolvierte das Assessorexamen 1911 und wurde zudem promoviert. Ende 1911 erfolgte bereits seine Zulassung zur anwaltlichen Tätigkeit, die er Zeit seines Lebens in einer gemeinsamen Kanzlei mit seinem Bruder Theodor in der Kölnischen Straße 4 ausüben sollte. 1924 wurde er zudem als Notar bestellt, spätestens 1932 auch beim Oberlandesgericht zugelassen. Er blieb ledig und wohnte mit seiner Mutter, nachdem der Vater bereits 1912 gestorben war, in der elterlichen Wohnung am Ständeplatz 10. Wie seine Schwester Frieda und deren Ehemann Hermann Weiler, deren Haus in der Kölnischen Straße eine wichtige Rolle im Musikleben der Stadt spielte, war auch Alfred Dellevie äußerst musikalisch. Seine Schwester charakterisierte ihn nach dem Krieg als „Klaviervirtuosen“, der über eine umfangreiche Musikbibliothek verfügte.
In die Kanzlei der Brüder kamen auch Referendare zur Ausbildung, darunter 1921 Roland Freisler, der zum führenden Kasseler Nationalsozialisten aufstieg und später als berüchtigter Präsident des Volksgerichtshofes in Berlin zum juristischen Massenmörder wurde. Spätestens seit 1925, als Theodor Dellevie Vorsitzender der Ortsgruppe des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wurde, war das Büro der Brüder Anlaufstelle, um antisemitische Vorfälle zu dokumentieren und zur Anzeige zu bringen, vor allem durch Theodor Dellevie. Inwieweit auch sein Bruder Alfred daran beteiligt war, lässt sich nicht genau ermitteln.
Ständeplatz in den 1930er Jahren (roter Pfeil zu Haus Nr. 10, StadtA Kassel E4 Nr. 15606) - Kölnische Straße 4 (hier war die Kanzlei, zuletzt wohnten alle Dellevies und Weilers hier)
Als Rechtsanwälte gehörten Alfred Dellevie und sein Bruder zu der Berufsgruppe, von der die Juden bereits in den ersten Monaten der NS-Herrschaft ausgeschlossen werden sollten. „Juden gehören nicht in deutsche Gerichte“ titelte die Hessische Volkswacht bereits am 5. April 1933 und beschrieb eine entsprechende Verordnung, nach der viele Anwälte ihre Zulassung verloren. Die Brüder Dellevie blieben auf Grund einer Ausnahmeregelung für sog. „Altanwälte“, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg zugelassen worden waren, davor verschont, konnten gleichwohl ihren Beruf nicht wie zuvor ausüben. So wurde nach späteren Angaben Theodor Dellevies jüdischen Anwälten bereits unmittelbar mit dem Beginn der NS-Herrschaft das Betreten des Justizgebäudes verboten und zudem dürften auch bei den Brüdern nicht-jüdische Klienten zunehmend ferngeblieben sein, wie das zum Beispiel Dr. David Goldschmidt für seine Kanzlei beschrieb.
Theodor Dellevie setzte sich auch unter der NS-Herrschaft weiterhin anwaltlich für den „Schutz der Juden“ ein (so der kommissarische Polizeipräsident) und wurde unter dem üblichen Vorwand des Kontaktes zu Kommunisten zur Zielscheibe des Verfolgungsapparates. Am 8. Mai 1933 erfolgte eine Durchsuchung des Büros, bei der Unterlagen von ihm beschlagnahmt wurden, aber wohl auch Literatur aus dem Besitz von Alfred Dellevie. Sein Notariat verlor er wie sein Bruder im September 1933.
Die beiden Brüder gehörten zu den mehr als 250 jüdischen Männern aus Kassel, die während der Novemberpogrome 1938 am 10. November verhaftet und am Tag darauf im KZ Buchenwald inhaftiert wurden. Er erhielt die Häftlingsnummer 21942. Im Konzentrationslager Buchenwald mussten die Häftlinge schon in den ersten Tagen den Tod von Leidensgenossen in einem eigens eingerichteten Sonderlager erleben, einer mit Stacheldraht vom übrigen Lager abgetrennten „Sonderzone“. Hier kamen alle Extreme des KZ zusammen: Enge, Wassernot, vollkommen unzureichende sanitäre Einrichtungen und Ernährung, der Terror der SS, „Schlafregale“ ohne Decken und Strohunterlage, die lediglich 50 cm hoch waren. Auch Morde gehörten dazu. So erinnert sich der letzte Kasseler Rabbiner Dr. Robert Raphael Geis, der mit Alfred Dellevie in Buchenwald inhaftiert war: „Da standen wir zu Tausenden und Abertausenden an diesem Tag von morgens 6.00 Uhr bis spät in die Nacht auf dem Appell-Platz. Zur Abendstunde wurde vorn auf dem Kommando-Turm, für uns nicht sichtbar, ein Jude zu Tode geprügelt. Er rief mit immer schwächer werdender Stimme das Bekenntnis: ‚Höre Israel, Gott ist unser Gott. Gott ist Einer.‘ Juden, für die jeder Laut das Ende bedeuten konnte, beteten dennoch mit dem sterbenden Bruder: ‚Höre Israel, Gott ist unser Gott. Gott ist Einer,‘ antworteten wie Juden gläubigerer Zeiten, bekannten sich in der Stunde, die todeserfüllt bis über den Rand war, zum Gott ihrer Väter. Ja, zu Juden, zu bekennenden Juden wurden wir geschlagen.“ (Geis, S. 182)
Geldkarte von Alfred Dellevie aus dem KZ Buchenwald - Appell der Häftlinge des Sonderlagers vom Novmeber 1938
Nach seiner Entlassung bereits am 27. November entzog man Alfred Dellevie wie allen noch verbliebenen jüdischen Anwälten zum 1. Dezember die Zulassung. Allerdings durfte er als einer der wenigen jüdischen Anwälte als jüdischer „Konsulent“ tätig bleiben, der allein jüdische Klienten beraten und vertreten durfte. In dieser Funktion war er noch im Januar 1941 zum Beispiel im Zusammenhang mit der zwangsweisen Abgabe der Kunstsammlung des 1940 verstorbenen Alexander Fiorino befasst.
1941 bereitete Alfred Dellevie offenbar seine Auswanderung in die Schweiz vor, wohin er ein umfangreiches Umzugsgut (darunter auch ein Flügel) transportieren ließ. Bevor es dazu kommen konnte, starb er am 3. April 1941 und wurde auf dem jüdischen Friedhof begraben. Vergeblich versuchte seine Schwester Frieda Weiler nach dem Krieg in einem Entschädigungsverfahren, seinen Tod auf im KZ erlittene Leiden und Gesundheitsschäden zurückzuführen. Eine Entschädigung für das in der Schweiz versteigerte Umzugsgut beantragte seine Schwester gleichfalls vergeblich. Die Behörden lehnten dies mit der Begründung ab, der Verlust sei nicht im Deutschen Reich entstanden.
Quellen und Literatur
HHStAW:
518 Nr. 11005 (Entschädigungsakte)
HStAM:
Bestand 270 3926 (Klage von Frieda Weiler gegen das Land Hessen)
Best. 165 3982 Bd. 10/11
Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora:
Schriftliche Auskunft zu Alfred Dellevie vom 28.11.2023
Arolsen Archives:
Verschiedene Dokumente zu Alfred Dellevie
StadtA Kassel:
Einwohnermeldedaten
Robert Raphael Geis, Leiden an der Unerlöstheit der Welt. Briefe, Reden, Aufsätze, hg. von Dietrich Goldschmidt in Zusammenarbeit mit Ingrid Ueberschär, München 1984
Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13. Geschichten vom jüdischen Leben und seiner Zerstörung im Vorderen Westen, in Kassel und der Region, Kassel 2014
Martina Schröder-Teppe, Wenn Unrecht zu Recht wird … . Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte im Bezirk der Rechtsanwaltskammer Kassel nach 1933, Kassel 2006
Wolfgang Matthäus
Juni 2024
Verlegung am 29. Juni 2024