Rede von Joachim Bollmann anlässlich der Stolpersteinverlegung am Goethe-Gymnasium am 01.09.2017

 

 

 

Liebe Gäste, liebe Mitglieder unserer Schulgemeinde,

 

ich begrüße Sie alle ganz herzlich hier im Eingangsbereich des Goethe-Gymnasiums und bitte Sie inne zu halten und jetzt die Perspektive zu wechseln. Denn ich möchte nicht zu Ihnen, sondern zu einem Kollegen sprechen. Ich möchte einige Worte an einen Kollegen richten, der tot ist, der aber heute, am 01. September 2017, wieder in das Kollegium dieser Schule aufgenommen wird:

 

 

 

Sehr geehrter Herr Dr. Heß, lieber Kollege,

 

Sie sind jahrelang diese Stufen hinauf und wieder herunter gegangen, Sie haben viele Jahre das Kollegium der Oberrealschule in Kassel durch Ihre Persönlichkeit bereichert. Sie haben hier an unserer Schule als Studienrat viele Jahre mit Herzblut unterrichtet. Sie taten, was viele von uns heute noch ganz genauso tun: Sie lehren den Satz des Pythagoras, vermitteln die Hebelgesetze und sorgen für so manche chemische Verpuffung. Wegen Ihres pädagogischen Impetus waren Sie, lieber Kollege Heß, fürsorglich und Sie wurden deswegen von den Schülern geachtet und geliebt. Nicht umsonst nannten die Schüler Sie liebevoll „Onkel Otto“.

 

Auch im Kollegium waren Sie angesehen, genossen Respekt ob Ihres großen Wissens und Ihrer Fähigkeit, dies mit den Schülern zu teilen. Und Sie waren kein Einzelgänger. Sie waren ein freiwilliger Einzelgänger in der Freizeit beim Bergsteigen, aber im Kollegium sind Sie gerne Ihren kollegialen Pflichten nachgekommen. Lieber Dr. Heß, Sie haben sich mit ihren Kollegen beraten, sich mit ihnen ausgetauscht, ganz so, wie wir es heute im Kollegium des Goethe-Gymnasiums auch tun.

 

Aber dann wurden Sie zu einem Einzelgänger und dies nur deshalb, weil Sie ein Jude waren, weil Sie der einzige jüdische Lehrer in dieser Lehranstalt waren. Sie sind fest im Tagesgeschäft eines Lehrers verankert, aber Schritt für Schritt verändert sich die Lage und plötzlich werden Sie zu einer Persona non grata. Wie fühlten Sie sich dabei?

 

Die Kollegen wahren Ihnen gegenüber die Form: Sie werden gegrüßt, nehmen an den Konferenzen teil und verrichten Ihre Arbeit. Sie spüren aber, dass sich die Menschen vor Ihnen zurückziehen. Sie merken, dass Sie immer wieder und immer häufiger alleine im Lehrerzimmer stehen. Die gewohnte Unbeschwertheit und Selbstverständlichkeit im Umgang mit den anderen, mit den Schüler, den Eltern und Kollegen, die geht verloren.

 

Und Sie erfahren manchmal, wenn der Vorhang der kalten Höflichkeit angehoben wird, etwas, das Sie bis dahin nicht kannten: Verachtung. Wie mag sich das alles angefühlt haben?

 

Und dann ein weitere Einschnitt: Gerade noch stellen Sie Abituraufgaben, korrigieren die Arbeiten und führen die Schüler durch ihre mündlichen Prüfungen, gerade noch ebnen Sie den Schülern den Weg in ihre Zukunft – und dann werden Sie aus Ihrem Arbeitsumfeld verbannt, ohne jemals einen Fehler gemacht zu haben, ohne jeden persönlichen Anteil.

 

Viele mögen denken, dass es Ihnen, lieber Kollege Heß, im Vergleich mit Millionen anderer Menschen jüdischen Glaubens gut ergangen ist, dass Sie vielleicht sogar Glück gehabt haben. Sie durften zunächst nicht aus dem Schuldienst entfernt werden, weil Sie im ersten Weltkrieg für Deutschland an der Front gekämpft haben. Aber wie hat sich diese Vereinzelung wohl angefühlt? Und wie immens wird Sie gesteigert, wenn man dann auch körperlich ausgegrenzt wird und seinen Arbeitsplatz nicht mehr betreten darf?

 

Wir wissen nicht, wie Sie sich fühlten, ob Sie jemals Schlaf gefunden haben oder ob Sie im Schlaf Alpträume gequält haben, wir wissen nicht, ob Sie täglich voller Angst durch die Räumlichkeiten unserer Schule gegangen sind und wie groß Ihre Trauer war, wir wissen nicht um das Maß Ihrer Verzweiflung und Enttäuschung und letztlich wissen wir auch nicht, welche körperlichen Leiden oder Selbstmordgedanken Ihren Alltag verdunkelten. Wir können Ihr Leid an dieser Ausgrenzung nur erahnen.

 

Was wir aber ganz klar wissen, ist, dass sich Ihre Ausgrenzung noch über Ihren Tod hinaus ausdehnte: Ihr Tod in den Alpen, lieber Herr Dr. Heß, – sei es Selbstmord oder ein Unfall gewesen – Ihr Tod wurde in der Schulgemeinde vollständig ignoriert. In keiner Schulandacht wurde an Ihre Verdienste erinnert und Ihr Tod wurde nicht beklagt. Viele Mitglieder der Schulgemeinde haben Ihren Tod offensichtlich sogar mit Erleichterung aufgenommen.

 

Wenn man dies alles weiß und auf sich wirken lässt, dann wird das Bedeutsame des heutigen Tages offensichtlich: Sie, lieber Kollege Dr. Heß, sind ab heute nicht mehr ausgegrenzt und werden deutlicher wahrgenommen, als das gesamte Kollegium, das Sie damals ausschloss.

 

Ich bin glücklich - und ich bin mir sicher, dass ich dieses Gefühl mit allen Mitgliedern der Schulgemeinde des Goethe-Gymnasiums teile - ich bin glücklich, dass die Idee von Herrn Demnig zu der Rückkehr von Ihnen, lieber Dr. Hess, an diese Schule geführt hat.

 

Es ist schön, dass dieser Stolperstein nicht am Kirchweg, Ihrem letzten Wohnhaus, zur Erinnerung verlegt wird. Denn hier am Goethe-Gymnasium ist ein besonderer Ort für dieses Mahnmal. Hier werden täglich hunderte junger Menschen an Sie, lieber Dr. Heß, erinnert und Sie werden hier weiter leben: Die Schülerinnen und Schüler des Goethe-Gymnasiums werden die Lehrkräfte nach Ihnen befragen und die Lehrkräfte werden vom menschenverachtenden Umgang der Nationalsozialisten mit Ihnen berichten. Ich verspüre eine tiefe Genugtuung und freue mich, dass Sie ab heute wieder ein sichtbares Mitglied unserer Schulgemeinde sind.

 

Ich möchte nun denjenigen danken, die dies möglich gemacht haben und heute hier sind: Vielen Dank an euch, liebe Schülerinnen und Schülern, vielen herzlichen Dank an Sie, liebe Lehrkräfte, namentlich an Sie, Frau Janakat, und an Sie, Herr Beuchel, und vielen herzlichen Dank an den Ortsbeirat und den Vorstand des Vereins „Stolpersteine in Kassel“ sowie an Sie, Herr Skorka.

 

Sie alle haben dies möglich gemacht. Danke!

 

 

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