Mina, Willi, Edith und Frieda Engelbert

Kurt-Schumacher-Straße 2 (früher Hohentorstraße 7)

Mina und Willi Engelbert auf den Kennkarten der NS-Bürokratie (StadtA Kassel)

Rechts in der MItte das Haus Hohentorstraße 7  ("Anzüge"), nachdem der Besitzer bereits ein anderer war. Das Foto von Carl Eberth ist offenbar während des Novemberpogroms 1938 aufgenommen worden (StadtA Kassel).

 

Willi Engelbert wurde  am 18.12.1874 in Kassel als Sohn des Ehepaares Franziska Engelbert, geb. Neuhaus (1844-1909) und Hermann Engelbert (1842-1925) geboren. Bis in die Mitte der 30er Jahre führte der Kaufmann ein Herrenkonfektionsgeschäft in der Hohentorstraße 7, in dem er mehrere Angestellte beschäftigte. Seine Frau Mina, geb. Lipp unterstützte ihn dabei. Sie wurde am 26.3.1888 in Bamberg als Tochter der Eheleute Salomon Lipp (1862-1937) und Henriette Lipp, geb. Bloch (1867-1938) geboren.

Im zweiten Stock des Geschäftshauses, dessen Miteigentümer Willi Engelbert war, verfügte die Familie über eine 7-Zimmerwohnung und führte einen „gut bürgerlichen Haushalt“, wie der Nachbar und der mit der Familie befreundete Ernst Plaut (der Bruder von Max Plaut), nach dem Krieg bestätigten. Zum Lebensstandard gehörte immer auch Dienstpersonal und privater  Sprach-, Musik- und Gymnastikunterricht  für die Töchter, die beide unter der NS-Herrschaft keine Berufsausbildung mehr absolvieren konnten.

 

Frieda Engelbert (verh. Tschernow-Schwartz)

 

Die ältere Tochter wurde am 23. August 1911 in Kassel geboren und besuchte das Oberlyzeum am Ständeplatz (heute Jacob-Grimm-Schule). An die sehr gute Sportlerin konnte sich der Vorstand des Casseler Schwimmvereins Kurhessen noch in den 1960er Jahren erinnern. 1931 bestand Frieda Engelbert die Reifeprüfung und begann mit dem Ziel, Personalinstruktorin zu werden, ein Praktikum bzw. eine Ausbildung in dem Warenhaus von Leonhard Tietz (Kaufhof), was sie aber 1933 zwangsweise beenden musste. Ihrer Perspektiven in Deutschland beraubt, entschloss sie sich zu einer landwirtschaftlichen „Umschichtung“, die notwendig war, um im April 1935 über Triest nach Palästina einwandern zu können.

Dort arbeitete sie über lange Zeit als Ungelernte im Gastronomiebereich, heiratete und bekam eine Tochter. Einen Beruf konnte sie ab Mitte der 1960er Jahre aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Ihr Antrag, ihre gesundheitlichen Probleme als Folge der erzwungenen Auswanderung in ein Land mit ungewohnt harten klimatischen und Arbeitsbedingungen anzuerkennen, wurde abgelehnt.

 

Edith Engelbert (verh. Dorot)

 

Die jüngere Tochter Edith wurde am 6. Juni 1916 geboren. Sie besuchte von 1923 bis 1927 zunächst das private Kästner‘sche Lyzeum, danach wie Frieda das Oberlyzeum, konnte aber im Gegensatz zu ihrer Schwester den eingeschlagenen höheren Bildungsweg nicht abschließen, sondern musste als Schülerin der Obersekunda zum Herbst 1933 „die Lehranstalt mitten im Schuljahr als Jüdin verlassen“, wie sie nach dem Krieg schrieb. Das angestrebte Studium war damit illusorisch geworden. Sie besuchte zunächst bis zum April 1934 die katholische Frauenschule in Kassel, um sich als Kindergärtnerin vorzubereiten. 1936/37 nahm sie in München an Vorbereitungskursen für ihre Einwanderung nach Palästina teil, wohin sie im Mai 1937 gelangte. Dort heiratete sie. Wie ihre Schwester wurde Edith Dorot für die entgangene Ausbildung mit 5.000 DM und für die finanziellen Aufwendungen bei der Auswanderung von der Bundesrepublik mit 80 DM „entschädigt“.

 

Mina und Willi Engelbert

 

Das Geschäft der Engelberts litt bereits seit 1933 litt unter den Boykottmaßnahmen, so dass wahrscheinlich aus diesem Grund Willi Engelbert 1935 seinen Anteil an dem Haus verkaufte. Das Unternehmen veräußerte er ein Jahr später an einen ehemaligen nicht-jüdischen Lehrling, der nach Abschluss seiner Ausbildung auch weiterhin bei ihm tätig war. Peter Busam soll – den Erinnerungen seines Sohnes nach – einen „fairen Preis“ bezahlt und diesen zum Teil „schwarz“ entrichtet haben. Die Töchter erlebten nicht mehr, wie ihr Vater im November 1938 verhaftet und wochenlang in Buchenwald in einem Sonderlager unter grausamen Bedingungen inhaftiert wurde. Im gleichen Monat starb Minna Engelberts in Bamberg wohnende, verwitwete Mutter, die erst kurz zuvor nach dem Tod ihres Mannes zu ihrer Tochter nach Kassel gekommen war.

 

Links: Geldkarte für Willi Engelbert aus Buchenwald

Rechts: Appell der Häftlinge des Sonderlagers in Buchenwald im November 1938

 

Im März 1939 musste das Ehepaar in die Große Rosenstraße 22 ziehen, im November 1939 dann in die Admiral-Scheer-Straße 13, in der die befreundete Henriette Plaut wohnte, die Witwe von Leopold Plaut und Mutter von Ernst und Max Plaut. Als Willi Engelbert im gleichen Monat einen Fragebogen für die Finanzbehörden ausfüllen musste, konnte der einst gut verdienende Geschäftsmann als Einkommen nur noch 60 Mark im Monat für eine Pflegschaft und 11,50 Mark Unterstützung von der Jüdischen Zentralwohlfahrtstelle Kassel angeben.

In der Admiral-Scheer-Straße hatte Minna Engelbert 1940 für ein paar Wochen ihre Schwester Else Lewy aus Coburg zu Besuch, die als erste aus der Familie deportiert werden sollte. Von Nürnberg aus am 29. November 1941 in das Baltikum im Alter von 58 Jahren verschleppt, gehörte sie zu den Tausenden von Opfern der vier Transporte, deren Ziel das Lager Riga-Jungfernhof (Jumpramuiza) war, das heute als „Wartesaal auf den Tod“ bezeichnet wird. Else Lewy gehörte nicht zu den weniger als 200 Menschen, die das Lager überlebten.

Für Willi Engelbert war nach der Trennung von seinen Töchtern und dem Verlust der wirtschaftlichen Existenz sowie der großen Deportation von mehr als 1.000 Menschen aus Kassel im Dezember 1941 die Deportation seiner Schwägerin sicherlich ein weiterer schmerzlicher Ausdruck einer „zertrümmerten Lebensgemeinschaft“ (Benz) in Deutschland. Zudem erlitt das Ehepaar im Januar 1942 eine erneute Zwangsausweisung von der Admiral-Scheer-Straße in das „Judenhaus“ Schillerstraße 7.

Am 16. März 1942 setzte Willi Engelbert seinem Leben selbst ein Ende. Diese Entscheidung teilte er mit mehr als mindestens 5.000 Menschen unter den deutschen Juden, die mit dem Freitod am Ende selbst über ihr Schicksal verfügten und sich so gegen ein ihnen aufgezwungenes Schicksal behaupteten – gegen eine fanatische Politik, die selbst in den Konzentrationslagern den Freitod als selbstbestimmte Handlung mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Allein in Berlin gab es 260 Menschen, die anders als die 2.500 Deportierten den Freitod vorzogen, weil sie sich nicht einfach ergeben wollten. Aller Fluchtmöglichkeiten ins Ausland beraubt, blieb als extremste Form der Flucht der Suizid, den es seit Beginn der NS-Herrschaft unter den Juden als Reaktion auf die Verfolgung gab. Mit den Deportationen seit 1941 nahmen die Fälle schwunghaft zu, sicher Ausdruck einer Verzweiflung, aber gleichfalls eines ganz bewussten Handelns, das oftmals von langer Hand geplant und mitunter auch angekündigt war. Abschiedsbriefe, Tagebücher und Lebenserinnerungen zeugen noch heute davon, mit welcher menschlichen Stärke und Würde sich Menschen ganz bewusst dem Zugriff der Verfolgung entzogen. (Vgl. u. a. die Biografien zu den Stolpersteinen von Felix Blumenfeld, Anna, Levi und Bertha Katz oder auch Richard Hauschildt)

 

Willi Engelbert entging mit seinem Freitod dem Schicksal seiner Frau und deren älterer Schwester Else. Mina Engelbert musste am 1. Juni 1942 am Kasseler Hauptbahnhof den Deportationszug nach Sobibor besteigen, wo sie zwei Tage später ermordet wurde. Ihre Schwester Mathilde Schwager und deren Ehemann, der Bankdirektor Siegfried Schwager, wurden zur gleichen Zeit nach Theresienstadt deportiert. Dort starb Siegfried Schwager im März 1943, während Minna Engelberts Schwester im Oktober 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz und damit ins Gas geschickte wurde.

 

Rechts: Bei archäologischen Grabungen auf dem ehemaligen Lagergelände in Sobibor wurden 2014 Grundmauern der 1943 gesprengten Gaskammern freigelegt. Foto: Wojciech Pacewicz/picture alliance/dpa

Links: Bahnstation Sobibor (Foto: Reuters)

 

Willi Engelbert wurde 67 Jahre alt. Das durchschnittliche Alter der verfolgten Menschen, die den Freitod wählten, lag nur knapp darunter, bei 65 Jahren. Seine Leiche soll (nach Auskunft der Friedhofsverwaltung) eingeäschert und in einer Urne auf dem Grab seiner Eltern auf dem älteren jüdischen Friedhof in Bettenhausen bestattet worden sein. Nach dem Krieg sorgte die Familie Busam lange Zeit für dessen Pflege.

 

Das Grab der Eltern von Willi Engelert auf dem alten jüdischen Friedhof in Bettenhausen
Das Grab der Eltern von Willi Engelert auf dem alten jüdischen Friedhof in Bettenhausen

Quellen und Literatur

 

ITS Archives

Doc. No. 5821650#1 (Geldkarte Engelbert aus Buchenwald)

Stadtarchiv Bamberg

Auskünfte zur Familie Lipp vom 20.6.2013

HHStAW

Best. 518 Nr. 66545 und 58013

Stadtarchiv Kassel

Einwohnermeldekarte Willi Engelbert | Kennkarten Mina und Willi Engelbert | S3 361

Friedhofsverwaltung Kassel

Schreiben vom 26.6.2013 zum Familiengrab Engelbert

Gedenkbuch des Bundesarchivs – Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945

Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933.1945. Ein Gedenkbuch, Kassel 1986

Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13. Geschichten vom jüdischen Leben und seiner Zerstörung im Vorderen Westen, in Kassel und der Region, Kassel 2014

 

Wolfgang Matthäus, Oktober 2020

 

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