Ab August 1928 haben die Goldbergs in einer Erdgeschosswohnung im Königstor 12 gewohnt. Hier sind auch Sigrid und Manfred geboren. Sigrid ein paar Tage nach dem Einzug in die neue Wohnung, Manfred 1935. Da war das faschistische Terrorregime schon an der Macht. Bis Februar 1941 waren die Goldbergs hier gemeldet, ausgenommen Isaak. Er war schon im Juli 1939 nach England emigriert, mit der Absicht von dort alles in die Wege zu leiten, um seine Familie nachzuholen. Aber dazu ist es nicht mehr gekommen, denn am 1. September überfiel Nazideutschland Polen und löste den 2. Weltkrieg aus. Die Zurückgebliebenen wurden Opfer der rassistischen Vernichtungsideologie.
Doch der Reihe nach. Woher kamen Rosa und Isaak? Es waren - um mit heutigen Begrifflichkeiten zu sprechen - Wirtschaftsimmigranten aus dem Osten. Isaak ist 1897 im Dörfchen Jedlowka geboren. Es gehörte seinerzeit zu Westgalizien, das Bestandteil der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war. Heute liegt der Ort in der südpolnischen Wojewodschaft Kleinpolen. Im Alter von 23 Jahren hat sich Isaak erstmals in Kassel angemeldet. Erste Adresse war Leipziger Straße 25 (Unterneustadt), mit der Berufsangabe Händler.
1926 heiratet Isaak in Frankfurt/Main Rosa Majerowitz. Rosa ist 1904 in der Ortschaft Biecz in Galizien geboren. Die Geburtsorte der jungen Leute liegen nicht weit auseinander. Auch ihre Eltern kommen aus Galizien, sind aber seit 1905 im Raum Karlsruhe/Bruchsal ansässig. Rosa verbrachte ihre Jugend in Bruchsal bei ihren Eltern David und Helene Majerowitz zusammen mit vier Geschwistern. Deren Schicksal wird in der Gedenkschrift zur fünften Stolpersteinverlegung in Bruchsal genau geschildert.
Zu Rosa wird dort geschrieben: „ ... über ihre Schulausbildung wissen wir nichts, ihre Geschwister erinnerten sich aber, dass Rosa Klavierunterricht bekam. Sie verheiratete sich nach Kassel ...“ Erste gemeinsame Wohnung ist in der Blücherstraße 32 in der Kasseler Unterneustadt, nicht weit von Leipziger Straße 25. In den Kasseler Meldeakten ist unter Staatangehörigkeit „Österreich“ eingetragen.
Heiratsurkunde - Rosas Vater David Majerowitz, ermordet in Auschwitz, mit der Enkelin Sigrid - Vier Generationen: Rosa Goldbergs Opa Baurch Landau (Mitte), Rosa G. (links), ihre Mutter Helene und Rosas Tochter Sigrid (rechts)
1928 findet ein Wohnungswechsel statt. Das Paar zieht in das Königstor 12. Im Erdgeschoss des Seitenflügels findet es eine passende Wohnung. Genau rechtzeitig zur Geburt ihres ersten Kindes Sigrid am 28.September 1928. Am 29.12.1935 kommt mit Manfred das zweite Kind der Goldbergs zur Welt. Im Königstor verbrachten die Kinder bis 1938 ihre ersten Jahre. Ob Sigrid in die jüdische Schule in der Rosenstraße gegangen ist, war nicht zu ermitteln. Von 1933 bis 1936 lebte im Haushalt auch Rosas jüngste Schwester Clara. Vielleicht hat sie die Kinder betreut oder war im Laden ihres Schwagers tätig. In den Jahren 1929 bis 1938 betreibt Isaak ein Ladengeschäft zunächst Mittelgasse, später Wildemannsgasse 22, Ecke Marktgasse.
Seit Juni 1938 ist er im Konzentrationslager Sachsenhausen (nördlich Berlin) in Schutzhaft. Außerdem wird sein Laden im Zuge der Novemberpogrome 1938 verwüstet und geplündert. Ende 1938 kommt er frei und betreibt das Verfahren zur Genehmigung seiner Ausreise. Im Mai 1939 legt er der Devisenstelle Kassel die erforderlichen Bescheinigungen des Finanzamtes, der Stadtkasse, des Einwohnermeldeamtes und der Reichsbank vor. Er wartet nur noch auf das Visum vom Englischen Konsulat in Frankfurt. Am 17. Juli 1939 meldet er sich in Kassel nach England ab. Das Vorhaben, Einreisevisa und Tickets für seine Familie zu beschaffen, scheiterte. Isaak wurde nach Kriegsausbruch, wie viele Einwanderer zunächst als feindlicher Ausländer interniert und später nach Australien abgeschoben. Nach der Befreiung vom Faschismus hat er Kontakt zu den in Israel lebenden Geschwistern seiner Frau aufgenommen. Isaak ist 1989 in Australien gestorben.
Rosa und ihre Kinder Sigrid und Manfred – damals 11 bzw. 4 Jahre alt – blieben allein in Kassel zurück. Immer in der Hoffnung, dass sich doch noch eine Möglichkeit zur Ausreise ergeben könnte. Es bleibt ein Rätsel, wie sie sich bis 1941 über Wasser gehalten haben. Im Februar 1941 werden sie aus ihrer Wohnung Königstor gezwungen und in das Judenhaus Moltkestraße 10 eingewiesen. Als Judenhäuser wurden in der Sprache der Nazis Wohnhäuser jüdischer Besitzer bezeichnet, in die ausschließlich Juden zwangsweise eingewiesen wurden. Damit wurde zu Lasten der Juden Wohnraum für die sogenannte „deutschblütige“ Bevölkerung freigemacht. Die Maßnahme erleichterte Diskriminierungen der jüdischen Bewohner. Das Haus Moltkestraße 10 hatte fünf Stockwerke. Laut Adressbuch 1940 waren in der 1. und 2. Etage 10 jüdische Mieter zusammengezwängt.
Sigrid 1935 (das Foto wurde aufgenommen von der international bekannten Fotografin Aenne Mosbacher - 1888-1954 -, die in der "Grünen Villa" in der Querallee wohnte und dort ihr Studio hatte) - Sigrid und Manfred ca. 1937 - Rosa mit ihren beiden Kindern ca. 1937
Am 8. Dezember sind die Drei mit kleinem Gepäck in die Turnhalle Schillerstraße gebracht und am nächsten Tag zusammen mit 1000 anderen Juden nach Riga deportiert worden. Gleich nach der Ankunft wurde der 6-jährige Manfred zur Vernichtung ausgesondert. Als Rosa gegen die Trennung protestierte wurden, sie und Sigrid auch auf die Todesseite geschickt.
Dafna Maor / Majerowitz aus Israel, eine Nichte von Rosa Majerowitz-Goldberg, sendete im November 2019 einen Auszug aus den Memoiren von Clara Majerowitz – Schwester von Rosa Majerowitz-Goldberg. Dort heißt es: “Nach dem Krieg traf ich in Tel Aviv eine Frau, deren Name genauso wie der meiner Schwester Rosa Goldberg war. Ihr Mann war der Cousin von Izzy Goldberg, dem Mann meiner Schwester. Ich erinnerte mich an sie, als ich etwa ein Jahr lang in Kassel lebte und sie mit meiner damaligen Schwester in Verbindung stand. Beide Familien lebten in Kassel und hatten beide Kinder im gleichen Alter. Diese Rosa, die ich in Tel Aviv traf, wurde ebenfalls mit ihren Kindern nach Riga deportiert. Sie war eine große, starke Frau. Ich fragte sie nach meiner Schwester und sie erzählte es mir (was mit meiner Schwester und ihren Kindern geschah, nachdem sie in Riga aus dem Zug gestiegen war). ... Der kleine Junge von der Rosa, die ich traf, musste auf die Todesseite. Sie und der ältere Junge, der auch Manfred hieß, wurden zur Arbeit geschickt und gerettet. Ihr Sohn Manfred überlebte und er lebt in London."
Im selben Transport nach Riga befand sich eine weitere Rosa Goldberg aus Kassel (aus der Müllergasse, geb. Seemann, Jg. 1904), mit gleichfalls einem Sohn Manfred und einem weiteren Sohn Hermann. Auch deren Mann und Vater Baruch Goldberg war 1939 nach England emigriert in der vergeblichen Hoffnung, die Familie nachholen zu können. Jetzt liegen in Kassel für beide Familien Stolpersteine.
Erinnerung an den Transport und die Opfer aus Kassel in der Gedenkstätte und dem Museum in Riga (Foto: Marina Kuchminskaja-Eimer)
Die Stolpersteine wurden durch Florian Jung, Lehrer am Justus-Knecht-Gymnasium in Bruchsal angeregt.
Quellen
Beate Kleinert und Wolfgang Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945, Hg. Stadt Kassel 1986
Bundesarchiv
Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden
Stadtarchiv Kassel
Meldeakten | Adressbücher Kassel
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Entschädigungsakten und Devisenakten Isaak Goldberg, Bestand 518 Nr. 52153; Bestand 519-3 Nr. 36173
Helmut Thiele: Die jüdischen Einwohner zu Kassel
Auskünfte von Dafna Maor, Israel
Gedenkschrift zur fünften Stolpersteinverlegung in Bruchsal am 27.3.2019, Hg. Stadtverwaltung Bruchsal 2019
Jochen Boczkowski, Dezember 2020