Graben 6 A (früher Tränkepforte 1/2
Fritz Faibus Lentschner
Bella Raizla Lentschner geb. Liebermann
Rosa Lentschner verh. Rosenbaum
Ida Judith Lentschner verh. Chermony
Nuomi Fella Lentschner verh. Gluzman
David Lentschner
Isaak Issy Lentschner
Joseph Lentschner
Ruth Lentschner
Heinz Lentschner
Frieda Lentschner
Hermann Lentschner
Die Wurzeln der Familie Lentschner liegen im Zentrum von Polen. Bella Raizla Liebermann (*1896) stammt aus Lodz und der 9 Jahre ältere Fritz Faibus Lentschner (*1885) aus Ozorkow, einer Kleinstadt 30 km nördlich. Faibus hat nach der Schule eine Ausbildung als Weber gemacht und ist am Ende des Ersten Weltkriegs mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern Minna und Rosa nach Deutschland gekommen.
1918 wohnen sie zunächst im Graben 23 und ab dem 24.11.1921 im Haus Tränkepforte 1/2, von wo aus sie einen Textilwarenhandel betreiben.
In regelmäßigen Abständen von zwei Jahren werden ihnen insgesamt neun Kinder geboren: Ida (1919), Fella (1921), David (1923), Isaak Issi (1925), Joseph (1928), Ruth (1929), Heinz (1929), Frieda (1931) und der Nachzögling Hermann (1937). Hinzu kommen die zwei Mädchen Minna (1912) und Rosa (1914) aus der ersten Ehe des Vaters. Zwischendurch, am 27. Juni 1927 wird dann noch offiziell geheiratet. Bei ihnen wohnte auch Bellas Mutter Freimut Liebermann geborene Krükstein. Im Jahr 1932 stirbt die Mutter und die älteste Tochter Minna heiratet und zieht nach Hannover.
Das Haus Tränkepforte 1/2 war ein sehr stattliches Haus und gehörte der Familie Treiser, die im Erdgeschoss eine Kurz-, Weiß- und Wollwaren-Großhandlung unterhielt. Die Lentschners wohnten zunächst im zweiten Stockwerk und später im ersten und betrieben dort ein Textilwaren-Etagengeschäft. In einem großen Eckzimmer gab es ein Lager von Herrenkonfektion, Weißwaren und Trikotagen.. Faibus hatte Stände in mehreren westfälischen Städten, in Thüringen und Sachsen (Gotha, Eisenach, Halle und Leipzig) und auf Jahrmärkten und Weihnachtsmärkten.
Die Eltern waren sehr bemüht, allen ihren Kindern eine vernünftige Ausbildung zu ermöglichen. Die Kinder besuchten die jüdische Volksschule in der Großen Rosenstraße. Von Rosa und Ida wissen wir, dass sie anschließend eine Lehre machten, Rosa arbeitete im elterlichen Betrieb mit, und Ida absolvierte eine kaufmännische Lehre bei Max Oppenheim Chemikalien in der Kölnischen Straße. Unter der Nazidiktatur war das jedoch immer schwieriger. Ida berichtet, dass sie als einzige jüdische Angestellte unter arischen Kollegen und einzige jüdische Schülerin in der Handelsschule ständigen Beleidigungen ausgesetzt war.
Umso beachtlicher ist das Arbeitszeugnis, das ihr 1936 ausgestellt wurde, nachdem sie sich entschieden hatte, die Lehre abzubrechen und nach Palästina auszuwandern.
Rosa musste ihren Arbeitsplatz bei der Firma Katz als Näherin aufgeben und nahm wechselnde Anstellungen als Haushalts- und Erntehelferin in Leipzig, Medebach und Borgentreich an. Auch sie bemühte sich, der bedrückenden Lage in Deutschland möglichst schnell zu entfliehen.
Es gelang ihnen und ihrer Schwester Nuomi Fella in 1936 und 1937 über Dänemark nach Palästina auszuwandern. Auch dem ältesten Bruder David gelang die Flucht nach Palästina noch kurz vor dem Krieg in 1939 mit gerade mal 15 Jahren.
Die Geschäfte der Eltern gingen schlechter. Das Einkommen sank von ehemals 600 RM im Monat auf ca. 100 RM ab 1936. Ab 1937 musste Faibus Arbeitslosenunterstützung beziehen und wurde zu Arbeiten in den Grünanlagen Kassels verpflichtet. 1938 wurden Wohnung und Warenlager der Lentschners geplündert.
Am 9.12.1941 fuhr vom Kasseler Hauptbahnhof ein Sonderzug mit 1025 jüdischen Bürgern in das Rigaer Ghetto. Die von der Familie Lentschner in Kassel verbliebenen 8 Personen gehörten dazu: die Eltern Faibus und Bella (56 und 45 Jahre alt) und ihre Kinder Isaak (16), Joseph (13), Ruh (12), Heinz (10), Frieda (8) und Hermann (4).
Hier verliert sich ihre Spur.
Ob sie den Transport in primitiven Güterwaggons bei bitterer Kälte und mangelhafter „Ernährung“ überhaupt überlebten und wie sie im Ghetto der katastrophalen Unterbringung, der Kälte und dem Hunger trotzen konnten oder ob sie bei einer der Massenexekutionen gleich nach der Ankunft um Opfer gefallen sind, wissen wir nicht.
Einer der wenigen Überlebenden (Siegfried Ziering) berichtet: „Am 9.12.41 nachmittags fuhren wir ab. Es waren ungeheizte 3ter Klasse Coupes. Wir fuhren über Berlin, Breslau, Posen, Königsberg, Tilsit und kamen am 12. Dez. 41 in Riga an. Es war 40 Grad Kälte. Das meiste Gepäck ließen wir am Bahnhof auf nimmer Wiedersehen. Bei einem furchtbaren Schneesturm mussten wir ins Ghetto marschieren. Zehn Kilometer ... Wir bekamen zu zehn Personen ein kleines Zimmer und Küche. Die ersten drei Wochen bekamen wir überhaupt keine Verpflegung. An Frieden und Freiheit dachte schon keiner mehr, unser einziger Wunsch war, als Juden zu sterben, und wenn, dann zusammen.“ (Brief von Siegfried Ziering aufbewahrt in der Gedenkstätte Yad Vaschem in Jerusalem).
Nur von Issy (Isaak) Lentschner wissen wir sicher, dass er zunächst überlebte. Er war mit 16 Jahren der älteste und wohl auch kräftigste der Lentschner-Kinder und ist bei den Selektionen im Rigaer Ghetto sicherlich als arbeitsfähig eingestuft und zur Zwangsarbeit eingesetzt worden. Am 9. August 1944 wird seine Ankunft im KZ Stutthof (bei Danzig) notiert. Die Häftlingspersonalakte des KZ Buchenwald dokumentiert anschließend seine Überstellung von Stutthof am 16.8.1944 mit der Häftlingsnummer 82248. Bei seiner Einlieferung wog der 19-Jährige 55 kg und war 1,67 m groß. Sein Sterbedatum ist nicht bekannt.
Quellen:
Stadtarchiv KS, Hausstandsbuch Bestand A 3.32 Nr. 596, 220 International Tracing Center Bad Arolsen
Hess. Staatsarchiv Wiesbaden 518/ 37138, 61721, 61722, 63966, 63968, 63969
Hessisches Staatsarchiv Marburg, 270 Kassel, 6419
http://statistik-des-holocaust.de/list_ger.html
Yad Vashem.org
im Oktober 2020 Jürgen Strube