Das Schicksal der jüdischen Familie Sommer war – wie das vieler Familien –geprägt davon, dass es den Eltern nicht gelang, der nationalsozialistischen Judenverfolgung zu entkommen, während die
beiden Kinder noch hatten auswandern können.
Der Viehhändler Jakob Sommer wurde am 21.12.1876 in Bebra geboren und heiratete am 30.2.1907 in Neustadt, Landkreis Marburg, die am 27.2.1883 dort geborene Johanna geb. Kanter. Seit 1917 wohnte
die Familie in der Leipziger Straße 20. Zu ihr gehörten die am 18.12.1907 geborene Tochter Käthi und der am 18.10.1914 geborene Sohn Ludwig.
Als einer von 1933 etwa 15 Viehhändlern in der Stadt gehörte Jakob Sommer einer Berufsgruppe an, die in besonderer Weise und schon ganz früh Zielscheibe der Antisemiten war, vor allem auf dem Land, wo die Radauantisemiten gleich ab dem Frühjahr 1933 alles unternahmen, um jüdische Viehhändler aus dem Beruf zu drängen – entgegen wirtschaftlicher Vernunft und Notwendigkeiten. Im Entschädigungsverfahren nach dem Krieg wurde Jakob Sommer ab 1933 „Schaden an beruflichem Fortkommen“ seit 1933 attestiert. Wie sich seine Geschäftstätigkeit ab diesem Zeitpunkt entwickelte, ist nicht genau zu ermitteln. Die Adressbücher verzeichnen noch bis 1935 sein Viehgeschäft mit einer Telefonnummer, danach nur noch das Viehgeschäft. Das Adressbuch von 1938 macht bereits keine Berufsangabe mehr, während Jakob Sommer 1937 noch vom Polizeipräsidenten eine Legitimationskarte zur Ausübung seines Geschäfts erhalten hat. Wahrscheinlich hat sein Viehhandel bereits ab 1933 erhebliche Einbußen erlitten und die „Verordnung über die Zulassung zum Handel mit Vieh“ im Jahr 1937 die Ausübung seines Berufes ganz unterbunden. Sie machte die Zulassung von einer „persönlichen Zuverlässigkeit“ abhängig, die Juden willkürlich nicht zugestanden wurde. 1938 wurde Viehhändlern eine Tätigkeit außerhalb ihres Wohnortes untersagt und damit praktisch unmöglich gemacht, bevor sie im November 1938 ganz aus dem Wirtschaftsleben ausgeschlossen wurden.
Wie zahlreiche Männer wurde Jakob Sommer am 10. November 1938 verhaftet und in Buchenwald inhaftiert. Mitteilungen darüber konnten in Briefen nur verschlüsselt gemacht werden. So schrieb Johanna Sommer Mitte November: „Der l Papa ist noch auf Wilhelmshöhe, und hoffen, dass er mit Gottes Hilfe bald wieder kommen wird.“ Über seine Hafterfahrungen konnte Jakob Sommer seiner Tochter in New York angesichts der Zensur der Briefe nicht berichten, lediglich darüber, dass er wieder zu Hause sei. In einem Brief vom Anfang Dezember klang allerdings die Verbitterung desjenigen an, der die besondere Brutalität Buchenwalds gegenüber den jüdi-schen Häftlingen erlitten hatte: „Ich bin seit dem 27. November wieder zuhause und gehe vorläufig meiner alten Beschäftigung wieder nach. … Wir J.in D. sind in der Welt, auch bei den reichen J. in A. übrig, und will uns arme Menschen niemand in der Welt noch haben. Für die reichen J. auch in A. wäre es ein leichtes, für all die armen Menschen in D. zu sorgen, aber sie tun sehr sehr wenig. Auch Sie bekommen für Ihre Handlungen Ihren Lohn. Ich will nun hiervon schweigen.“ Über seine Arbeit, die ihm wahrscheinlich zugewiesen worden war, schrieb er eine Woche später: „Meine Lieben! Soeben komme von der Arbeit nach Hause. Es war wieder ein schweres Stück Arbeit heute zu leisten, doch mit der Zeit wird man sich an allem gewöhnen müssen. Alles muss man ertragen müssen … wenn uns mehr verdient würde aber für das was geleistet, was von uns verlangt wird, ist der Lohn zu wenig.“ Zum notdürftigen Lebensunterhalt des Ehepaars trug in dieser Zeit die Untervermietung mit Verpflegung an eine alleinstehende Dame bei, die 1.50 Mark täglich einbrachte.
Jacob Sommer starb wenige Monate später am 11.9.1939. Dem Antrag der Tochter, den Tod ihres Vaters als Folge der Haft anzusehen und zu entschädigen, lehnten die Behörden in den 50er Jahren
ab.
Die kaufmännisch ausgebildete Käthi Sommer hatte am 6.11.1935 den Viehhändler Berthold Speier aus Alsfeld geheiratet und wurde 1936 aus der elterlichen Wohnung nach Alsfeld abgemeldet. Dem
Ehepaar, das kinderlos bleiben sollte, gelang es im August 1938 nach New York auszuwandern. Ihrem Bruder Ludwig, gleichfalls kaufmännisch ausgebildet, doch später als landwirtschaftlicher Gehilfe
bezeichnet, verhalf ein Freund in Rhodesien mit einem Arbeitsvertrag zur Einreisegenehmigung in das Land, wo er in der Gegend von Bulawayo – einer Stadt mit der ersten jüdischen Gemeinde des
Landes – in verschiedenen stores arbeitete.
Von ihm und der Mutter Johanna, ihrer Schwägerin Gertrud und Ludwig sind eine ganze Reihe von Briefen an Käthi und ihren Mann aus den Jahren 1938-1940 im United States Holocaust Museum überliefert. In ihnen kommt immer wieder die Sorge um den jeweils anderen zum Ausdruck. Vor allem aber geht es oft darum, auch den Eltern zu ermöglichen, Deutschland zu verlassen und die Familie wieder zusammen zu führen.
„Wie schön wäre es, wenn wir zusammen feiern könnten. Ja, wir armen Juden werden verstreut über alle 4 Enden der Welt“, schreibt Ludwig an seine Schwester und: „Ich wäre froh wenn ich erst mal
die Lb. Eltern hier hätte.“ „Ich würde mich freuen, wenn ich bald zu euch meine Lieben könnte“, heißt es in einem Brief der Mut-ter an die Tochter. In einem anderen betont sie – wie so oft – ihr
Gottvertrauen: „L. Berthold u. l. Kähti Ihr dürft Euch freuen daß Ihr drüben seid. Wir würden uns freuen, wenn wir bei euch wären und müsst man sich auf Gott vertrauen das wird in der
schweren Zeit helfen.“ Tante Gertrud schreibt an ihre Nichte nach dem Tod des Vaters: „Sicher ist es schwer, jetzt für deine Mutter ihre Kinder so weit weg zu wissen, aber das trifft
so viele dasselbe Los, es gibt natürlich nur einen Wunsch bei Euch zu sein, ich glaube daß Du jede Möglichkeit ausnutzen wirst dies zu erreichen.“
Käthi und Ludwig unternahmen in der Tat Einiges. So schreibt Ludwig 1939 an Schwester und Schwager: „Könnt Ihr vielleicht einen Anstellungs-Vertrag für die Lb. Eltern auf einer Farm besorgen?!
Der Lb. Papa kann sich doch Zeugnisse von verschiedenen Bauern besorgen & und denke ich bestimmt daß Sie damit durchkommen … Hier kommen bald täglich Emigranten an & werden die
Einwanderungs- Bestimmungen täglich schwerer“ “ und: „Betr. der Lb. Eltern müssen wir alles mögliche versuchen dieselben raus zubekommen hier wäre für sie auch eine Möglichkeit nur müßte ich hier
Vorzeige-Geld haben.“
Käthi Sommer gelang es offenbar 1941, ein kubanisches Visum für ihre Mutter zu besorgen. Nach der Emigration der Kinder und dem Tod des Mannes allein, musste diese im November 1939 ihre Wohnung aufgeben, zunächst in die Müllergasse 12 und im März 1942 in die Schillerstraße 9 ziehen. Von dem kubanischen Visum konnte sie keinen Gebrauch mehr machen. Johanna Sommer wurde am 1.6.1942 nach Sobibor deportiert, wo sie am 3.6. wenige Stunden nach der Ankunft ermordet wurde. Ihre Tochter versuchte noch 1944, für sie ein amerikanisches Visum zu bekommen.
Ihre Schwägerin Getrud Sommer und deren Kinder Margot und Norbert Sommer wurden am 9.11.1941 nach Riga deportiert und kamen dort ums Leben. Johanna Sommers Bruder, der Viehhändler Moses Kanter,
der sie oft in Kassel besucht hatte, musste 1941 von Neustadt/Kreis Marburg zwangsweise nach Fronhausen an der Lahn ziehen, wo man noch verbliebene Juden aus dem Landkreis konzentrierte. Er
starb noch vor der drohen-den Deportation nach Riga.
Kathi Speier starb am 23.7.2004 in New York, ihr Ehemann Berthold am 21.6.2000. Von Ludwig Sommer lebten in dieser Zeit zwei Kinder in Bulawayo (Simbabwe).
Quellen und Literatur
StadtA Kassel: Einwohnermeldeunterlagen, Adressbücher | S3 Nr. 265 Überwachung von Handel und Gewerbe der Juden
Kathi Speier correspondence: https://collections.ushmm.org/se arch/catalog/irn44710
Barbara Händler-Lachmann / Ulrich Schütt: „unbekannt verzogen“ oder „weggemacht“. Schicksale der Juden im alten Landkreis Marburg 1933-45, Marburg 1992
Zum Tod von Kathi und Berthold Speier: http://www.recordonline.com/article/20040726/News/307269986
Wolfgang Matthäus
Februar 2018
Verlegung der Stolpersteine am 5. März 2018
Die Unterneustadt vor den Kriegszerstörungen. Der Pfeil weist auf die Leipziger Straße 22, wo sich das Wohnhaus der Familie Sommer befand.
Fotos von der Verlegung der Steine gibt es hier. (Bisher leider nur eins, wir hoffen auf weitere.)