Diese Steine stehen für Schicksale von 6 Menschen aus 3 Generationen. Sie sind in die Freiheit und in den Tod geflohen. Mit ziemlicher Gewissheit kann gesagt werden: Sie hätten Kassel, die Heimat oder das Leben nicht aufgegeben, wenn in Deutschland der Faschismus nicht an die Macht gekommen wäre. Die rassistisch begründete Ausgrenzung, Demütigung und fabrikmäßige Vernichtung von Zigeunern und Juden war ein Bestandteil der Naziideologie. Sie bewirkte, dass von Deutschland mit Zustimmung großer Teile der Bevölkerung die Welt in Brand gesetzt worden ist. Der Aufbau eines Feinbildes war Voraussetzung zur Aggressivität gegen innere und äußere Feinde. Das jüdische Blut sei Träger minderwertiger Charakterzüge und Eigenschaften. Das wurde an Hochschulen gelehrt und in Medien gepredigt. Die Menschen sollten vernichtet und die Erinnerung an sie für immer gelöscht werden.
Gieda Ida Adler stammte aus Gudensberg. Sie war 1872 in der Schlachterfamilie Sussmann Katz Adler geboren und hatte 2 Geschwister. Das Grab ihres Vater befindet sich in Obervorschütz. Es ist möglich, dass der aus Hamburg stammende Schlachtergeselle Sigmund Tisch auf der Suche nach Arbeit in der Region die Metzgerstochter Gieda kennen und lieben gelernt hatte. 1880 in Hamburg geboren, am 22. Mai 1902 zum ersten Mal in Kassel polizeilich gemeldet, als Grund steht Arbeit auf der Meldekarte. Er hat 2 Schwestern in Hamburg. Seine Eltern sind Fanny Katzenstein und Ephraim Tisch. Am 5. November 1902 heiraten Gieda und Sigmund und nehmen Wohnung in der Orleanstraße 13. Und wie es so passt, kommt am 19.3.1903 Alfred Susmann auf die Welt. Am 17. Mai 1904 folgt Martha. Ihr Geburtsort ist Altona.
Auf der Meldekarte der Tischs sind in 20 Jahren 21 Ummeldungen vermerkt, entweder von der ganzen Familie oder Ida mit Kindern oder Sigmund alleine. Sie war mitunter monatelang bei den Schwiegereltern in Altona und er beruflich bedingt in Bremen. Aber auch in Kassel ging es hin und her.
1909 wohnen alle zusammen in der Schlachthofstraße 61. Dort befindet sich im 1. und 2. Stock das Israelitische Altersheim. Hier fungiert Sigmund Tisch als Portier, Telefon 3516. Aus dieser Zeit gibt es ein 100 Jahre altes Bild, auf dem die Familie samt Schwiegermüttern zu sehen ist. Am 1.10.1914 zieht das Altersheim in die Mombachstraße 17, nur um die Ecke. Es bietet Platz für etwa 20 Bewohner. Die Tischs gehören zum Personal. Ihre Namen, auch die der Kinder Alfred und Martha, finden sich im Hausstandsbuch an erster Stelle. Mit ihnen ziehen drei Hausmädchen und 17 Bewohner ein.
In 1918 wechselt die Familie ins Erdgeschoss des Hauses Sedanstraße 11. Im Adressbuch des Jahres 1919 ist Siegmund als Geschäftsführer eingetragen. In der Ehe Tisch kriselt es, denn in 1923 trennen sie sich. Im gleichen Jahr wandert Sohn Alfred nach USA aus. Möglicherweise hatte der 20-jährige die Querelen in der Ehe seiner Eltern satt. Er heiratet in der neuen Heimat ein ‚California girl‘. Sohn Tom wird in 1939 geboren und gibt in 2013 den Anstoß für die heutigen STOLPERSTEINE.
Wie geht es weiter in der Sedanstraße 11 in Kassel? Dort sind Gieda und Tochter Martha Tisch jetzt ohne Mann und Bruder zu hause. Die vorliegenden Dokumente weisen beide Frauen als berufslos aus. 1932 heiratet Martha den 1906 in Kassel geborenen Simon David Reich. David hat seit seiner Geburt in Kassel bei seinen Eltern Leo und Helene Reich gelebt, zuletzt in der Kaiserstr. 11. In den Jahren 1924-1926 hat er in Lage/Lippe am dortigen Technikum Maschinenbau mit Ingenieursabschluss studiert. Zur Überbrückung hat er auch seinem Vater in dessen Firma Hessischer Eierversand in Kassel, Karlsstraße 6 geholfen. Das junge Paar lebt jedenfalls zusammen mit Mutter Gieda in der Sedanstraße. Sie bekommen zwei Töchter. Helen Reich wird am 26. Juni 1934 in Kassel und Gabriela Reich am 23.2.1937 in Frankfurt geboren. Noch vor der Geburt seiner 2. Tochter emigriert David im September 1936. In der Meldekarte heißt es: 27.12.1936 nach Johannesburg in Südafrika. Er hat gemerkt, dass für Menschen jüdischer Herkunft keine Perspektive besteht. Er ist gewissermaßen der Quartiermacher, denn etwa ½ Jahr später 1937 folgen Martha, die dreijährige Helen und Gabriella ¼ Jahr alt dem Vater nach Südafrika. Und es klingt fast wie ein Wunder, auch die allein in Kassel in der Sedanstraße gebliebene Gieda, mittlerweile 67 Jahre alt, flüchtet 1939 nach Südafrika. Sie sind dem Vernichtungswillen der Nazis entronnen. Sie haben berufliche Karrieren aufgebaut, Familien gegründet, Kinder bekommen, nur Gabriella lebt noch. Ilana Ruscic, geb. Edelstein aus Johannesburg ist eine Urenkelin von Gieda, eine Enkelin von David und Martha und Tochter von Helen. Sie ist bei der Steinlegung dabei.
Noch ist der Kreis nicht geschlossen. Siegmund Tisch ist nach Trennung von Gieda nach Hamburg zurück gekehrt. Er hat als Kellner gearbeitet und in einer neuen Ehe mit Rosa Mohr einen weiteren Sohn bekommen. Nach Verlust der Arbeitsstelle hat er am 19.8.1938 seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Vor der ehemaligen Eimsbütteler Wohnung von Siegmund in der Bellealliancestraße liegt bereits ein STOLPERSTEIN. Sein Sohn Emil Tisch lebt in Hamburg und ist 85 Jahre alt. Tom und Rosemary Tisch, Paten der 6 Kasseler Steine haben zu ihm Kontakt.
(Jochen Boczkowski)
Quellen: Stadtarchiv Kassel – Adressbücher, Meldekarten, Hausstandsbuch
Gedenkbuch Kassel / Gedenkbuch Bundesarchiv / www.stolpersteine-hamburg.de
The Descendants of Jeremias Katz by Hans-Peter Klein, Melsungen