Arno Weinberg,

seine Eltern Abraham und Nascha und seine Geschwister

Rosel, Regina, Helene, Max, Samy und Bernhard

Obere Schäfergasse 8

Verlegung der 9 Stolpersteine am 17. Mai 2016    Fotos davon hier

Arno (eigentlich Arnold Lev) Weinberg war noch keine 15 Jahre alt, als er in der Gaskammer in Hadamar  im Rahmen der „Aktion T4“ ermordet wurde. Bei diesen von den Tätern als „Euthanasie“ bezeichneten Morden ging es um die Vernichtung von „lebensunwertem Leben“, die von einer 1939 eigens dafür aufgebauten Verwaltungszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 systematisch geplant wurde. Bis zum Kriegsende verloren etwa 300 000 Menschen mit psychischen oder neurologischen Beeinträchtigungen ihr Leben. Die Patienten wurden aus Heilanstalten und Kinderheimen in Tötungsanstalten verschleppt (häufig mit den sogenannten „Grauen Bussen“) und meist direkt nach der Ankunft ermordet.  Zur Verschleierung gegenüber den Angehörigen bezeichnete man dies als „Verlegung“ und erfand seuchenpolizeiliche und kriegsbedingte Notwendigkeiten dafür. Sonderstandesämter versanden Sterbeurkunden mit falschen Sterbensdaten und erfundenen Todesursachen (und auf Wunsch auch Urnen). In Hadamar sind von Januar bis  August 1941 über 10 000 Menschen ermordet worden.

 

Wie ist Arno in das Getriebe dieser Tötungsmaschinerie geraten?

 

Zu- und Abgangsbuch Weilmünster
Zu- und Abgangsbuch Weilmünster

Arno wurde am 3.März 1926 als viertes Kind seiner Eltern Nascha (Neti) Krug und Abraham Weinberg in der Oberen Schäfergasse 8 in Kassel geboren. Von Bruder Max wissen wir, dass Arno seit seiner Geburt an einem Wasserkopf litt (1).  Die erforderliche Pflege und Betreuung konnten die Weinbergs nicht erbringen, sodass in der dauerhaften Heimunterbringung damals die beste Lösung gesehen wurde. Aus den behördlichen Meldedaten ist zu entnehmen, dass der Säugling schon wenige Wochen nach der Geburt nach Idstein in den Kalmenhof gekommen ist. Der Kalmenhof (Heilerziehungsanstalt Idstein) entstand durch das soziale Engagement Frankfurter Bürger und war eine überkonfessionelle Stiftung, „in welcher Idioten (Schwachsinnige, Blödsinnige und Epileptische) beiderlei Geschlechts, jeden Alters und religiösen Bekenntnisses verpflegt und soweit wie möglich zur Erwerbsfähigkeit erzogen“ und auch religiös und sittlich gebildet

 Eintragungen zu Arno im Zu-und Abgangsbuch Weilmünster (Archiv des LWV Hessen 19/14)

Spalte Abgang


werden sollten. Das änderte sich 1933 sofort nach der Machtergreifung. Anstelle der pädagogischen Förderung ging es nun lediglich um „wirtschaftliche Effizienz“. Mit reduzierten Betriebskosten sollte eine höhere Belegung sichergestellt werden. Bis 1937 sank die Zahl der in Ausbildung befindlichen Zöglinge im Heim von 270 im Jahr 1933 auf 37. Gleichzeitig stieg die Belegung von 630 auf fast 1000 Personen. Auch die überkonfessionelle Orientierung wurde aufgegeben. Die Stigmatisierung der Pflegebedürftigen als „unnötige Esser“ begann bereits im Jahr 1933. Ihre

Kalmenhof in Idstein: Knaben und Mädchenhaus (ca. 1925)
Kalmenhof in Idstein: Knaben und Mädchenhaus (ca. 1925)

massenhafte Ermordung sollte erst ab 1941 erfolgen. Am 5.2.1938 wurde Arno in die Landesheilanstalt Weilmünster verlegt, wo er die nächsten drei Jahre blieb. Hier wurden 1933 und 1939 Zwangssterilisationen durchgeführt, später diente die Anstalt auch als Zwischenstation für die Tötungsanstalt Hadamar. Hadamar war eine der sechs Tötungsanstalten, in denen in 1940 bis 1941 das fabrikmäßige Vergasen „erprobt“ wurde. Innerhalb von acht Monaten wurden dort über 10 000 Menschen vergast, zumeist Kranke und

Behinderte. Für diese im Rahmen der T4–Aktion ermordeten Opfer gibt es nur teilweise  Krankenakten im Bundes-archiv. Rund 40 000 der insgesamt 70 000 Opfer-akten wurden bis 1945 vernichtet.

Eines dieser Opfer war Arno Weinberg. Im Zu- und Abgangsbuch von Weilmünster findet sich jedenfalls ein Datum für seine „Verlegung“ nach Hadamar: der 7.2.41. An diesem Tag dürfte Arno in der Gaskammer im Keller von Hadamar ermordet worden sein. 

 

Doch zurück zu Arnos Familie

 

Arnos Eltern Abraham Weinberg und Nascha Krug (Kruk) stammen beide aus Polen und waren israelitischen Glaubens. Viele Juden verließen damals ihre Heimat, um Armut und Pogromen zu entgehen. Abraham wurde am 15.5.1894 in der Großstadt Lodz, dem“ Manchester“ Polens, geboren, während seine zwei Jahre jüngere Frau Nascha Krug aus Zolynia, einem kleinen Ort in Galizien nahe der ukrainischen Grenze stammt, wo sie am 3.1.1896 zur Welt kam. Im Kasseler Hausstandsbuch wird Abrahams Beruf mit Händler angegeben, für die „Ehefrau“ wird keiner genannt. Ob die beiden sich bereits vorher kannten oder sich erst in Deutschland kennenlernten, ist genauso wenig bekannt wie die Umstände und der genaue Zeitpunkt ihrer Immigration. In den zwanziger Jahren kamen sie jedenfalls nach Deutschland und  lebten zunächst in Bad Orb, wo sie nach jüdischem Brauch getraut wurden.Dort kam auch am 10.10.1920 die älteste Tochter Rosel zur Welt.

Blick in die Obere Schäfergasse (im Hintergrund die Martinskirche) links neben dem Pferdefuhrwerk ist das Tor zum Hinterhaus
Blick in die Obere Schäfergasse (im Hintergrund die Martinskirche) links neben dem Pferdefuhrwerk ist das Tor zum Hinterhaus

Im Jahr 1922 zogen sie nach Kassel in die Mittelgasse 72 (4. Stock), wo bereits sechs weitere Mitglieder der Familie Kruk*  (vermutlich die Mutter von Nascha und Geschwister und Cousinen) wohnten. Vermutlich wegen der raäumlichen Enge und weil sich Nachwuchs ankündigte , zog die junge Familie am 3.5.1922 in die Schäfergasse 8 (Hinterhaus 1. Etage).

Dort erblickten sechs weitere Kinder das Licht der Welt: Regina am 7.8.1922, Helen am 5.2.1924, danach das Sorgenkind Arno am 3.3.1926, sodann die Zwillinge Max und Samy am 19.1.1928, und schließlich machte Bernhard am 2.3.1931 die Familie komplett. 

Im Jahr 1927 ließen Abraham und Nascha sich standesamtlich trauen. Möglicherweise hatten bis dahin die notwendigen Papuere dafür gefehlt. Von da an trugen alle Kinder den Namen Weinberg.

* In den amtlichen Dokumenten variert die Schreibweise ,

Adressbuch Kassel Obere Schäfergasse 8
Adressbuch Kassel Obere Schäfergasse 8

Schon früh nach dem Beginn der nationalsozialistischen Terrorherrschaft erkannten die Weinbergs, dass der weitere Verbleib in Deutschland bedrohlich für die Familie werden konnte, und so entschlossen sie sich im Sommer 1933 zur Flucht. Am 26.7. verließ die Mutter zusammen mit zwei Kindern, dem zweijährigen Bernhard und der neunjährigen Helene die Stadt Kassel in Richtung Antwerpen, der Vater und die anderen Kinder folgten zwei Monate später (18.9.). Dort mussten sie noch zwei Jahre warten, bevor sie sich 1935 nach Palästina einschiffen konnten. Den damals siebenjährigen Arno, den sie im Kalmenhof in sicherer Obhut glaubten, mussten sie zurücklassen.                                     

Arnos Bruder Max

Von den Weinbergs kehrte der 1928 geborene Max  nach Deutschland zurück. Er ist, wie er selbst sagt, „der letzte Mohikaner, also der letzte Überlebende aus seiner Generation”. Max Weinberg ist Maler und lebt und
arbeitet seit 1959 in Frankfurt am Main.

Als Max sich 1948 als Soldat der israelischen Armee weigerte, zwei palästinensische Bauern zu erschießen, wurde er unehrenhaft aus der Armee entlassen. Sich nicht anpassen und die Grauen des Holocaust in seiner Kunst anprangern, dieses Credo verfolgt Max Weinberg bis heute. Der exzentrische Maler hat einen sehr eigenständigen, farbenfrohen, phantasievollen und aussagekräftigen Malstil entwickelt und ist mit seinen 88 Jahren noch immer voller Tatendrang. Tag für Tag malt er in seinem Frankfurter Atelier und stellt regelmäßig aus (zuletzt Anfang des Jahres im Hessischen Ministerium für Bildung und Kunst in Wiesbaden).

 

Seine damalige Flucht aus Kassel hat er nur schemenhaft in Erinnerung. Seinen Bruder Arno hat er (vermutlich) nie gesehen und von seinem Schicksal erst viele Jahre später erfahren.
Max Weinberg verstarb am 18. April 2018 im Alter von 90 Jahren. Über Leben und Werk informiert eine Webseite.

 

Jochen Boczkowski, Margrit Stiefel, Jürgen Strube April 2016

Anregung und erste Recherchen erfolgten durch Martina Hartmann-Menz in Elz

 

Quellen:

Adressbuch Kassel 1933

B. Kleinert / W. Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933 – 1945, Kassel 1986

Hessisches Hauptstaatsarciv Wiesbaden 461/32061 Bd.3

Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen LWV Bestand 19/ 14

Archiv der Stadt Kassel A 3.32 HB 540 (Schäfergasse 8) und 548 (Mittelgasse 72 )

 

Fotos:

Schäfergasse: Stadtarchiv Kassel E.7.2 Nr. 428 (Fotograf unbekannt)

Kalmenhof:: http://www.alt-idstein.info/html/der_kalmische_hof.html

Max Weinberg: Oeser (Frankfurter Rundschau 4.6.2008

 

Übrige Fotos: Jürgen Strube, Jochen Boczkowski

 

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