Johanna, Irmgard und Simon Wertheim

Emma Kohlhagen

Wolfhager Straße 13

Heiratsurkunde
Heiratsurkunde

Von 1929 bis 1941 haben Johanna und Simon Wertheim im 1. Stock von Wolfhager Straße 13 gewohnt. Vorher haben sie ab 1920 in der Hohentorstraße 6 und danach Lutherstraße 9 gewohnt. Ihre Hochzeit war 1920 in Corbach. Als Trauzeugen haben Brautvater Calmon Kohlhagen und der Bruder des Bräutigams Isaak Wertheim fungiert.

Johanna, Jahrgang 1896, ist in Korbach geboren. Ihre Eltern waren Calmon Kohlhagen und seine Frau Emma, geb. Appel. Sie betrieben in Korbach eine Färberei und Reinigung. 1898 ist ihr Bruder Max geboren.

Simon Wertheim stammte aus Großroppershausen in der Schwalm. Heute gehört das Dorf zur Gemeinde Frielendorf. Um 1900 gab es dort eine jüdische Gemeinde mit 44 Personen. Er ist 1889 geboren. Er hatte fünf ältere Geschwister.

Abraham 1879 – 1937, gestorben USA

Isaak 1880 – 1970, gestorben USA

Willi Wolf 1882 – 1917, im Ersten Weltkrieg gefallen

Johanna 1884 – 1941, ermordet Riga, verh. Worms

Frieda 1887 – 1966, gestorben USA, verh. Bennet

Die Eltern waren Hirsch und Breinchen Bertha Wertheim, geb. Moses. Hirsch war als Reisekaufmann tätig. Beide sind auf dem Judenfriedhof Großroppershausen beerdigt.

 

Simon Wertheim ist 1913 erstmals in Kassel von der Meldebehörde mit der Wohnadresse Holländische Straße 80 registriert worden. Dort wohnte sein Bruder Isaak und betrieb dort im Erdgeschoß ein Ladengeschäft in unbekannter Branche. Nach den Adressbüchern waren dort gleichzeitig Weinhandel, Schuhhandel und Vermittlungsagenturen angesiedelt. Dort könnte Simon erste Schritte in Richtung Schuhbranche erlernt haben. Denn ab 1920 gab es unter seinem Namen Schuhgeschäfte in der Hohentorstraße, Luther- und Gießbergstraße. Die Selbständigkeit mit Ladenlokal war nicht von Dauer. Zum letzten Mal ist Schuh-Wertheim 1930 im Branchenverzeichnis präsent. Es gibt keine Informationen über die anschließenden Aktivitäten, auch nicht in den Entschädigungsakten.

 

Am 26. April 1921 wird Irmgard, Tochter von Johanna und Simon, in der Hohentorstraße geboren. Ihre Eltern sind damals 25 und 32 Jahre alt. Ihr Schulweg von der Wolfhager Straße 13 über Gießbergstraße – Lutherplatz – Spohrstraße zur Großen Rosenstraße in die jüdische Schule betrug 800 m. Einschließlich Schulleiter bestand das Kollegium 1929 aus 6 Personen. Es ist unbekannt, ob Irmgard in eine weiterführende Schule gegangen ist oder eine Lehre begonnen hat. Wir wissen aber, dass jüdische Kinder ab 1933, vielfältiger Isolierung und Ausgrenzung ausgesetzt waren. Im Dezember 1937 konnte das 16-jährige Mädchen nach New York auswandern. Irmgard ist dadurch der Deportation und Ermordung entgangen. Dennoch hat sie dann später ein trauriges Schicksal erfahren. Im Entschädigungsverfahren des Jahres 1964 heißt es:

"Die Antragstellerin, die im Jahre 1937 nach den USA auswanderte, wurde am 3.5.1941 als Geisteskranke in das Bellevue-Hospital, Long Island und am 14.5.1941 in das Pilgrim State Hospital am gleichen Ort eingeliefert.

Am 20. Juni 1955 wurde sie von den amerikanischen Behörden nach Deutschland zurückgeschickt. Vom Krankenhaus Hamburg-Ochsenzoll kam sie am 3.11.1955 in das Psychiatrische Krankenhaus Marburg/L., wo sie sich seitdem aufhält.

Nach der gutachtlichen Äußerung dieses Krankenhauses ist unter Berücksichtigung der Eigenart der im Mai 1941 manifest gewordenen Erkrankung . . . . mit einer Besserung . . . . nicht zu rechnen."

In einem weiteren anwaltlichen Schriftsatz des Jahres 1957 wird ausgeführt:

"Nachdem sie infolge der NS-Verfolgungsmaßnahmen im Jahre 1937 nach den USA ausgewandert war, verblieben Ihre Eltern in Kassel. Es gelang ihr nicht für dieselben ein Einwanderungszertifikat zu erhalten. Die Nachricht, daß ihre Eltern deportiert und umgekommen sind, hatte ihren nervlichen Zusammenbruch und somit die Ausweisung aus den USA zur Folge."

Bevor Irmgard aus den USA zurückgeschickt werden konnte, ist ihr im März 1955 die vom RP Kassel verliehene Wiedereinbürgerungsurkunde durch den Generalkonsul der BRD in New York ausgehändigt worden. Durch ihre Emigration war ihr die Staatsbürgerschaft aberkannt worden. Ihre Krankheit ist als Verfolgungsschaden anerkannt worden. Nach ihren ermordeten Eltern Johanna und Simon hat sie deren Ansprüche auf Entschädigung wegen Freiheitsentzug und Vermögensschaden geerbt.

Irmgard Wertheim ist am 16.12.1989 in Marburg gestorben und auf dem alten jüdischen Friedhof in Marburg beigesetzt.

Sterbeurkunde des Standesamtes Oranienburg mit der fingierten Todesursache "Kreislaufschwäche"
Sterbeurkunde des Standesamtes Oranienburg mit der fingierten Todesursache "Kreislaufschwäche"

Simon und Johanna mussten im Mai 1941 aus ihrer Wohnung Wolfhager Straße in das Judenhaus Jägerstraße 7 umziehen. Nur 2 Monate später wird Simon von der Gestapo in Haft genommen und in das Arbeitserziehungslager Breitenau eingewiesen. In den Akten ist kein Haftgrund vermerkt. Es könnte sich um ein sogenanntes Kennkartenvergehen gehandelt haben, d.h. Judenstern nicht getragen oder Missachtung von Sperrzeiten. Am 28.8.1941 wird er in das Konzentrationslager Sachsenhausen überstellt. Am 25. Februar 1942 ist er tot. Er war 52 Jahre alt. Auf dem alten jüdischen Friedhof in Bettenhausen gibt es in Abteilung 28, Grab 37 einen stehenden Grabstein ohne lesbare Inschrift.

 

Im Archiv der Gedenkstätte Breitenau befindet sich unter der Signatur LWV K2 Nr. 7411 die Personalakte des Schutzhäftlings Simon Wertheim. Im Aufnahmebuch ist er unter 649 registriert. Kein Hinweis zum Haftgrund. Die Personenbeschreibung und die Anordnung zur Überführung ins KZ sind hier abgebildet. Sie sind die letzten Simon Wertheim betreffenden Dokumente, als er noch lebte.

 

Zurück bleiben Witwe Johanna Wertheim und deren Mutter Emma Kohlhagen, geb. Appel. Emma ist 1874 in Borken geboren, Tochter von Samuel Appel und Riekchen Mannheimer. Sie war seit 1895 mit Calmon Kohlhagen verheiratet. Nach dem Tod ihres Mannes 1926 hat sie mit Ihrem Sohn Max in Korbach die Färberei und Reinigung weitergeführt. Als Max in 1938 von Korbach mit Familie in die Vereinigten Staaten emigriert, übersiedelt sie nach Kassel in die Wolfhager Straße 13 zu Tochter und Schwiegersohn. Beide Frauen werden im Januar 1942 erneut umquartiert von der Jägerstraße in die Klosterstraße 24. Die Klosterstraße war im dicht bebauten Wohnquartier beim Karlshospital.

Von hier ist Johanna Wertheim über die Sammelstelle Schillerstraße am 1. Juni 1942 zusammen mit 508 Personen in den Zug nach Sobibor gezwungen worden. Alle sind nach ihrer Ankunft ohne Registrierung ermordet worden. Sie war 46 Jahre alt.

 

Emma Kohlhagen musste am 7. September mit dem letzten Transport Kassel verlassen. Das Deportationsziel war das Konzentrationslager Theresienstadt. Danach sollte Kassel „judenfrei“ sein. Vorher musste Emma einen Heimeinkaufsvertrag H unterschreiben. Damit wurde den Opfern vorgetäuscht, sie kämen in ein Altersheim. In Wirklichkeit ging es darum, sie ihrer restlichen 7.723,59 RM zu berauben. Im Transport waren 755 Personen, Durchschnittsalter 74 Jahre. Drei Wochen später ist Emma ins Vernichtungslager Treblinka – etwa 100 km nordöstlich von Warschau – geschickt worden. Sie war 68 Jahre alt.

Im September 1939 findet Johanna Worms, geb. Wertheim, eine Schwester von Simon, vorübergehend Obdach bei den Wertheims. Sie stammte wie er aus Großroppershausen und war in Saarwellingen mit dem Kleinviehhändler Isidor Worms verheiratet. Am 9. Dezember 1941 wird sie aus der Kaiserstraße 13 ins Getto Riga deportiert und dort ermordet. Für sie und ihre Familie liegen in Saarwellingen seit 2012 vier Stolpersteine.

 

Isaak Wertheim – Bruder und Geschäftspartner von Simon – kann im Jahr 1939 mit Familie aus Kassel, Holländische Straße 80 emigrieren.

 

Simon Wertheim als Soldat im Ersten Weltkrieg - Irmgard Wertheim als kleines Kind - Ihr Grab auf dem alten jüdischen Friedhof in Marburg - Simons Schwester Johanna Worms (alle Fotos zur Vergügung gestellt von Peter Giroux (USA)

Heimeinkaufsvertrag H von Emma Kohlhagen (BA - Sammlung Christian Lehmann)
Heimeinkaufsvertrag H von Emma Kohlhagen (BA - Sammlung Christian Lehmann)

Quellen und Literatur

 

Beate Kleinert und Wolfgang Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945, Hg. Stadt Kassel, 1986

Bundesarchiv: Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden

Stadtarchiv Kassel: Meldeakten, Adressbücher Kassel

Sammlung Christian Lehmann (Heimeinkaufsvertrag)

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: Entschädigungs-Akten Wertheim – HHStAW 518, 57214

Helmut Thiele: Die jüdischen Einwohner zu Kassel

Family Search zu Frieda Wertheim

Geni.com zu Simon Wertheim

Statistik des Holocaust

Gedenkportal Korbach

Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13, Kassel 2014 (zu Johanna Worms)

Stolpersteine in Saarwellingen

Hans Junker, Marburg, Mailauskunft wegen Sterbetag Irmgard Wertheim

 

Jochen Boczkowski

Juni 2021

 

 

 

 

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