Wir sollten dankbar dafür sein, dass wir nicht dabeigewesen sind. Wissen wir denn, ob wir die Prüfungen dieser schrecklichen Zeit bestanden hätten? Anfang der achtziger Jahre wurde ich hier in Kassel als Rechtsreferendar ausgebildet, in Behörden und am Landgericht. Zum Glück nicht fünfzig Jahre früher. Wäre ich damals ein „furchtbarer Jurist“ geworden, womöglich einer, der Werner Holländer verurteilt hätte - oder vielleicht einer, der das Zeug gehabt hätte, ihn zu verteidigen?
Das Todesurteil gegen Werner Holländer, der wegen sogenannter „Rassenschande“ als ein „Gewohnheitsverbrecher“ abgeurteilt wurde, zählt zu den schändlichsten des Sondergerichts Kassel. Ein klarer Fall von Justizmord. Verübt durch Richter, die „den Dolch des Mörders unter der Robe“ verbargen, wie das Nürnberger Juristenurteil formulierte.
Als das Gnadengesuch abgelehnt worden war, verweigerte ein Oberstaatsanwalt Werner Holländer, obwohl evangelisch getauft, den Beistand eines Seelsorgers: dem Juden gönnte man das nicht. So ging er allein, ohne Trost, seinen letzten Weg, der unters Fallbeil führte. Nach über einem Jahr Einzelhaft, angekettet in der Todeszelle, soll er die bevorstehende Hinrichtung als Erlösung bezeichnet haben.
Der Abschiedsbrief, den er seinen Eltern schrieb, die rechtzeitig nach Brasilien auswandern konnten, wurde beschlagnahmt und später in den Akten nicht mehr gefunden. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, was darin wohl stand.
Nach dem Krieg folgte dem Justizmord an Werner Holländer ein zweiter Justizskandal. Denn die Richter des NS-Staats, die ihn damals verurteilten, sprach man frei: Sie fanden hier, am Landgericht in Kassel, ausgesprochen milde Richter. Solche, die auf „Rechtsbeugung“ nicht erkennen wollten und die davon, wie Menschen durch Recht gebeugt werden, nichts wissen wollten. So wie viele ihrer Zunft damals.
Den Namen Werner Holländer kennen heute nur wenige. Möge er durch den Stolperstein vor dem Haus, in dem er zuletzt wohnte, im kollektiven Gedächtnis dieser Stadt aufgehoben sein. Und möge denen, die nach uns kommen, eine Zeit erspart bleiben, in der man Stolpersteine aus dem Pflaster reißt. Horst Meier
(Quelle: www.horst-meier-autor.de)