Hans Spill

Hegelsbergstraße 10

 

Hans Spill ist am 13. Juli 1906 als Sohn des Tischlers August Spill und dessen Ehefrau Anna geborene Rundau in Kassel Wildemannsgasse zur Welt gekommen. Er hatte sechs Geschwister. Es waren der Reihe nach: Eduard Jahrgang 1898, Marie 1900, Otto 1902, Minna 1904, Luise 1908 und Hermann 1910. Er ist also in einer kinderreichen Arbeiterfamilie groß geworden.

 

Hans Spill erinnert sich ausführlich in den Kasseler Heften 3 - Erinnerungen aus Verfolgung und Widerstand:

 

Ein Fabrikarbeiter hatte zu damaligen Zeit einen Stundenlohn von 35 bis 40 Pfennig. Mein Vater bekam als Spitzenverdiener 54 Pfennig pro Stunde. Die Miete in der Mombachstraße 57 betrug für eine 2-Zimmerwohnung mit Küche 18 Mark im Monat. Es gab kein Bad. . . Krankenversichert war nur der Mann, während Frau und Kinder nicht versichert waren. Wurde der Ernährer krank, bekam er die ersten 3 Tage kein Krankengeld, die sogenannten Karenztage. Nach wenigen Tagen wurde er zur Ärztekommission vorgeladen. Auch durfte er die Wohnung nicht verlassen. Die Krankenkasse hatte sogenannte Krankenkontrolleure. . . . . .

Wollten nun meine Eltern die hungrigen Mäuler der Kinder stopfen, musste die Mutter mitarbeiten. Sie ging ans Waschfass zu besser gestellten Leuten. Die Arbeitszeit einer Waschfrau war von 8 Uhr früh bis 7 Uhr abends, wofür sie einen Tageslohn von 1,50 Mark und Essen bekam. . . . .

Mein Vater August wie auch der Großvater mütterlicherseits waren in der SPD August Bebels und im Holzarbeiterverband organisiert. Oftmals erzählten sie vom illegalen Kampf unter dem Sozialistengesetz Bismarcks, was von uns begierig aufgenommen wurde. In diesen Verhältnissen wuchs ich heran und wurde schon frühzeitig klassenbewusst.

Ostern 1913 kam ich in die Bürgerschule in der Holländischen Straße. Es war damals eine der modernsten Schulen. (heute Carl-Anton-Henschel-Schule) Wir hatten schon einen Zeichensaal, eine moderne Turnhalle sowie Geräte zum Experimentieren in Chemie und Physik. Lange sollten wir uns an unserer neuen Schule nicht erfreuen, denn im Jahre 1915 wurde sie als Lazarett eingerichtet. Wir wurden dann in die Bürgerschule 1 in der Sedanstraße verlegt. Die Schulklassen waren nicht nur doppelt, sondern oftmals dreifach belegt. Während dieser Zeit überrannten die Deutschen Truppen Belgien und nahmen eine Festung nach der anderen ein. Jedes Mal, wenn eine Festung gefallen war, läuteten die Kirchenglocken und wir Kinder bekamen schulfrei (siegesfrei).

Da er in einer sozialistisch geprägten Familie groß geworden, kam er schon früh mit der Arbeiterbewegung in Verbindung. Der Zugang erfolgte über die Freie Turnerschaft, die ihre Turnstunden sonntagsmorgens im Kleinen Stadtpark abhielt. Es war ein Lokal, wo etliche Arbeiterorganisationen, auch die Naturfreunde, ihren Sitz hatten. Jahre später wurde es in Bürgersäle umbenannt und erlangte als Sitz einer SA-Standarte gefürchtete Bekanntheit. Hans Spill betrieb neben Turnen noch Leichtathletik und Fußball. Er war dabei in der Freien Turnerschaft Kassel II und dem Rasensportverein Eintracht organisiert. Später wechselte er zum neugegründeten „Sportverein 1928 Philippinenhof“. Dieser Verein trat im Jahre 1931 aus dem Dachverband Arbeiter Turn- und Sportbund ATSB (Leipzig) aus und schloss sich der Kampfgemeinschaft Rote Sporteinheit und ihrem Dachverband Arbeitersportverein Fichte in Berlin an. Damit war die Spaltung der Arbeiterbewegung nach der Parteiebene auch auf der sportlichen Seite vollzogen.

Hans Spill wurde Vorsitzender des Vereins, der dann mit dem im Philippinenhof schon bestehendem Schützenverein Vorwärts fusionierte. Zur Roten Sporteinheit gehörten nicht nur Fußballer und Schützen, sondern auch eine Motorradstaffel, Gesangsvereine, Schwerathleten. Eine Sensation war die Bildung einer Schalmeienkapelle.

Wann Spill der KPD oder ihrem Jugendverband beigetreten ist, ist nicht belegt. 1932 wurde er zwecks sportpolitischer Schulung in eine Sportschule in der märkischen Heide bei Berlin delegiert. Die Themen der Schulung waren wissenschaftlicher Sozialismus, politische Ökonomie, das Kapital und der Kapitalismus, Gesellschaftslehre. Hans Spill resümiert im Rückblick, dass der Lehrgang auch der Vorbereitung auf die Illegalität diente, allerdings nur ungenügend.

Nach der Nazi-Machtübernahme bzw. -übertragung war Hans in den Aufbau von Widerstandsstrukturen eingebunden. Er übernahm Januar 1934 den Posten als Instrukteur für den Kreis Kassel von Georg Merle, der aus Sicherheitsgründen ins Saarland geschickt wurde.

"Neben dem Kontakt mit der Bezirksleitung bestand für mich auch eine Verbindung mit dem Instrukteur für Südwestdeutschland. Er belieferte uns mit Druckschriften und setzte auch Kuriere ein. Ich kassierte auch Beiträge und Spenden . . .

Am 11. April 1934 wäre es beinahe zu meiner Verhaftung gekommen, da ein geplantes Treffen mit dem Bezirksleiter Wilhelm Marker verraten worden war. Ich hatte Glück, dass ich Termin und Ort nicht erfahren hatte, weil mich der Überbringer der Nachricht nicht zu Hause antraf. Damit war aber auch klar: Ich konnte nicht länger in Kassel bleiben und musste untertauchen."

 

Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ging er zusammen mit einem ambulantem Stahlwarenhändler auf Tour. Sie bereisten zusammen das Eichsfeld bis hin zur Goldenen Aue. Er war 5 Tage in der Woche außerhalb. Samstag und Sonntag ging er seiner illegalen Tätigkeit nach und übernachtete in illegalen Quartieren. Sein Untertauchen verhinderte die Heirat mit Marta Helmis (*1909). Der gemeinsame Sohn Alfred wurde am 9. August 1934 geboren. Es bestand abgesicherte Verbindung zu ihr und dem Kind. Erst nach der Befreiung 1945 konnten sie heiraten.

Ab September 1934 war es ihm dann unmöglich weiter in Kassel zu bleiben. Hausdurchsuchungen bei seiner Braut in der Rothfelsstraße, deren Eltern und im Schrebergarten waren deutliche Warnsignale. Auf Anweisung der Reichsleitung wechselte er nach Mannheim und wurde mit einem saarländischen Personalausweis auf den Namen Alwin Kriegel, Saarbrücken, Gerberstraße 20 ausgestattet. Er wohnte in einer Privatpension und hatte auf Frage der Wirtin gesagt, er sei auf Montage in Ludwigshafen.

Er wurde in der illegalen Bezirksleitung Baden als Techniker eingesetzt und hatte für die Beschaffung, Herstellung und Vertrieb von Material zu sorgen. Zum Bezirk gehörten die Unterbezirke Worms, Ludwigshafen, Mannheim, Weinheim und Heidelberg an. Der spätere Verteidigungsminister der DDR, Karl-Heinz Hoffmann war zu damaliger Zeit Bezirksleiter unter dem Decknamen Kurt. In der Silvesternacht 1934/35 konnten sie Papierböller mit Flugblättern loslassen.

Am 4. Februar 1935 wurde er in der Pension verhaftet. Es dauerte einige Tage dann war seine wahre Identität festgestellt und er wurde nach Kassel überstellt. Bereits am 17. April fand die Verhandlung am Oberlandesgericht Kassel statt. Hier kam hauptsächlich nur seine Tätigkeit in Mannheim zur Sprache; über Kassel wurde nur am Rande verhandelt. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat wird er zu 6 Jahren Zuchthaus verurteilt. Schon eine Woche später war die Einlieferung in Wehlheiden.

 

Im ersten Jahr war strenge Zellenhaft ohne Arbeit angeordnet worden. Danach war er in der Schuhmacherei und später in der Buchbinderei beschäftigt, Haftform Zellenhaft. Er konnte am Tage in Gemeinschaft arbeiten, war aber nachts und am Sonntag allein. Nach 3 ½ Jahren wird er im Oktober 1938 in das Strafgefangenenlager Aschendorfer Moor im Emsland verlegt. Im Emsland gab es 14 solcher Haftstätten. Mit schwerer körperlicher Arbeit beim Torfstechen und ungenügender Ernährung sollten die Häftlinge mürbe gemacht werden.

Ab August 1940 ist er wieder im Zuchthaus Wehlheiden. In einer Nachweisung über Beschäftigung von Gefangenen ist belegt, dass er wieder mit Buchbinderarbeiten beschäftigt ist. Das Gefängnis teilt der Staatspolizeistelle Kassel im Dezember 1940 mit, dass Spill am 4. Februar 1941 nach Verbüßung von 6 Jahren Zuchthaus zur Entlassung ansteht. Er beabsichtigt sich danach zu seinen Eltern Kassel, Hegelsbergstraße 10 zu begeben. „Spill führt sich gut und arbeitet fleißig. Er ist geständig und begründet seine damalige politische Einstellung mit der wirtschaftlichen Notlage. Ob er sich wirklich innerlich umgestellt hat, ist nicht mit Gewissheit zu sagen.“

"Der Tag meines Strafendes rückte immer näher. Ich bekam von den Zurückbleibenden viele Aufträge für draußen, hatte ich doch keine Ahnung, dass ich nicht freikäme. Ich musste zum Hausvater und bekam meine Zivilkleidung. Aber statt durch das Tor in die Freiheit, kam ich in die Abgangszelle. Hier holte mich dann die Gestapo mittels PKW ab und brachte mich ins Polizeipräsidium Königstor."

Es wurde Schutzhaft im KZ Sachsenhausen angeordnet.

 

Das nördlich von Berlin gelegene Lager Sachsenhausen bestand von 1936 bis 1945. Zwischen 1936 und 1945 waren im KZ Sachsenhausen mehr als 200.000 Menschen inhaftiert. Unter ihnen befanden sich politische Gegner des NS-Regimes, Angehörige der von den Nationalsozialisten als rassisch oder biologisch minderwertig erklärten Gruppen wie Juden, Sinti und Roma, als "Homosexuelle" Verfolgte sowie sogenannte "Berufsverbrecher" und "Asoziale". Waren die Häftlinge zunächst überwiegend deutsche Staatsbürger, wurden nach Beginn des Zweiten Weltkrieges zehntausende Menschen aus den besetzten Ländern in das KZ Sachsenhausen verschleppt. 1944 waren rund 90 Prozent der Häftlinge Ausländer, unter denen Bürger der Sowjetunion und Polens die größten Gruppen stellten. Unter den Häftlingen des KZ Sachsenhausen befanden sich auch rund 20.000 Frauen. Im Totenbuch der Gedenkstätte Sachsenhausen sind über 20 000 Namen verzeichnet. 

Nach dem Zugangsblock durchlief Spill verschiedenste Lagerbereiche. Dazu gehörten Bauarbeiten auf dem Flugplatz der Heinkel-Werke, Brotbacken in der Großbäckerei, Buchbinderarbeiten, Mitarbeit in der Schreibstube und der Poststelle. Er hatte Funktionen in der legalen Häftlingslagerleitung wie auch der illegalen politischen Leitung. Eine Sonderkommission der SS-Lagerleitung führte im Juli 1944 eine Untersuchung durch, weil er kommunistische Agitation betrieben hätte. Er wurde von der Poststelle ins Klinkerwerk versetzt.

Im weiteren Verlauf erfolgte im Oktober 1944 seine Verschiebung ins KZ Mauthausen an der Donau. Es bestand von 1938 bis 1945 mit einem Durchlauf von etwa 200 000 Menschen. Durch Schwerstarbeit in den Granitsteinbrüchen sind Tausende Menschen zu Tode gekommen. Es hatte mehr als 40 Außenlager.

Unter zum Teil chaotischen Bedingungen wurde im Februar 1945 ein Kommando von 2 000 Häftlingen in das 40 km entfernte Amstetten geschickt mit dem Auftrag, den durch Bomben zerstörten Bahnhof wieder befahrbar zu machen. Inzwischen rückte die Front immer näher. Noch immer glauben fanatische Nazianhänger an den Endsieg. Die Häftlinge werden auf Marsch ins Außenlager Ebensee am Traunsee geschickt. 

Sowjetische Kriegsgefangene in Mauthausen - Appell in Mauthausen

Seit 1943 hattenin Ebensee Tausende Häftlinge ein unterirdisches Stollennetz errichten müssen, in der Mehrheit Polen, Sowjetbürger und Ungarn. In den Stollen sollten Raketen erprobt und produziert werden. Mehr als 8.100 Häftlinge kommen ums Leben. Kurz vor der Befreiung plant Lagerführer Anton Ganz, die Häftlinge in den Stollen durch deren Sprengung zu töten. Häftlinge verhindern die Umsetzung dieses Mordplans. Die Bewacher flüchten vor der herannahenden US-Armee und übergeben das Kommando über das Lager an den einheimischen Volkssturm. Am 6. Mai 1945 befreien amerikanische Truppen das Lager. Hunderte Häftlinge sterben noch in den Wochen danach an den Folgen der KZ-Haft.

Befreite Häftlinge in Ebenso (Foto rechts: Anrold E. Samuelson - National Archives)

Hans Spill war frei und machte sich mit einem Kumpel aus Thüringen zu Fuß auf den Weg nach Kassel. Nach 21 Tagen kam er in Kassel an. Er war 39 Jahre alt und traf zum erstmals auf seinen mittlerweile 11 Jahre alten Sohn. Es gab nach 10 Jahren auch eine Wiedervereinigung mit seiner Braut und den Eltern.

Hans Spill ist am 22.12.1986 im Alter von 80 Jahren in Kassel verstorben.

 

Jochen Boczkowski

August 2024

 

Quellen und Literatur

Adressbücher Kassel

arolsen archives

Kasseler Hefte 3 - Erinnerungen an Verfolgung und Widerstand

 

 

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