Der Familie Lewandowski entstammten bekannte und bedeutende Musiker wie der Komponist Louis und der Kantor und Baritonsänger Manfred Lewandowski. Hans Wolfgang Lewandowskis Vater Jakob war allerdings als Kaufmann tätig. Am 8. Oktober 1860 in Hamburg geboren, hatte er die am 2. Januar 1875 in Kassel geb. Caroline (Lina) Mecca geheiratet. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor: der Sohn Herbert (1896), die Tochter Irma (1903), die bereits im Alter von 12 Jahren starb, sowie als „Nachzügler“ die Zwillinge Hans Wolfgang und Walter Paul (10. Februar 1911). Jakob Lewandowski war bis 1923, als er sich in den Ruhestand zurückzog, Mitinhaber der mechanischen Wollwäscherei Katz und Sohn am Kupferhammer in Kassel-Bettenhausen. Nach der Geburt der Zwillinge war die Familie 1911 in die Hohenzollernstraße 88 (Friedrich-Ebert-Straße) gezogen.
Für die Lebensschicksale mehrerer Familienmitglieder spielten die Niederlande eine bedeutsame Rolle. Der älteste Sohn Herbert Lewandowski, der zu einem bedeutenden Literaten und Sexualwissenschaftlicher werden sollte , war nach dem Abitur am Friedrichsgymnasium, der Teilnahme am Weltkrieg und dem mit Promotion abgeschlossenen Studium der Germanistik bereits 1923 nach Utrecht ausgewandert. Lange Zeit, bevor es für einen Juden in Deutschland existenziell bedrohlich wurde, zog es ihn in die aus seiner Sicht offenbar liberaleren Niederlande. Schon als Jugendlicher hatte „sich alles in mir gegen das menschenverachtende, anti-humanitäre, größenwahnsinnige Preußentum“ empört, schrieb er später in seinem „Schweizer Tagebuch eines Internierten“. Und: Seit dem Krieg „war mir das Land meiner Geburt verleidet“. Dieses Land machte ihn mit der NS-Herrschaft zu einem verbotenen Schriftsteller, dessen Existenz durch die Beschlagnahme seines Verlages bedroht war.
Die polizeiliche Suche an Anstößigem in seinem Werk bewegte ihn 1937 zur Flucht nach Frankreich, zunächst nach Paris, später nach Südfrankreich. Mehrfach interniert und dann von der Deportation bedroht, gelang es ihm auf einer abenteuerlichen Flucht, in die Schweiz zu entkommen, wo er lange interniert wurde und danach bis zu seinem Lebensende blieb. Er starb kurz vor Vollendung seines hundertsten Lebensjahres 1996 in Genf.
Herbert Lewandowski hat wohl seine fast 15 Jahre jüngeren Brüder nur als Kleinkinder intensiv erlebt. Sie waren drei Jahre alt, als er Kassel verließ. In seinem umfangreichen Werk, das er unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte, findet sich kaum etwas zu ihnen. Von Paul Walter Lewandowski ist ein ausführliches Interview zu seiner Lebensgeschichte überliefert, das er 1993 dem Oregon Jewish Museum and Center for Holocaust Education gab.Er schildert seinen Vater als religiös, seine Mutter, die sich um die Familie gekümmert habe, als eher nicht-religiös. Zu den Feiertagen besuchte die Familie zwar die Synagoge, den Shabbat feierte sie aber zuhause nicht, auch gab es kein koscheres Essen. Es war wohl typisch für assimilierte Juden, dass die Mutter 1914 darauf bestand, dass der älteste Sohn zur Armee ging, um dem Vaterland zu dienen. Paul besuchte wie sein Zwillingsbruder Hans Wolfgang ein Gymnasium und verließ dieses mit der mittleren Reife, da ihn der Beruf des Einzelhändlers anzog und er eine entsprechende Ausbildung machen wollte. Diese absolvierte er beim Warenhaus Leonhard Tietz in der Königsstraße, das ihn 1931 zunächst nach Wiesbaden, wo er seine spätere Frau kennenlernte, und 1932 nach Koblenz schickte. Bereits 1933 flohen die beiden nach Amsterdam in die Niederlande, wo Paul seinen Lebensunterhalt als reisender Handelsvertreter für Kaffee und Tee verdiente. Nach der Heirat 1935 und dem Tod des Vaters 1936 erfüllte sich 1937 Pauls Wunsch, zusammen mit seiner Frau Edith geb. Rosenthal in die USA auszuwandern, wo bereits ein Onkel lebte. Wie dieser nahm er den Namen Lavender an. Die Familie lebte zunächst in Pittsburg (Pennsylvania), nach dem Krieg in Portland (Oregon). Paul Lavender starb 2005.
Über Hans Lewandowskis Leben ist weit weniger zu ermitteln. Er besuchte bis 1927 das Realgymnasium I, um danach eine kaufmännische Lehre anzutreten, wie es in dern Unterlagen der
Schule heißt. 1930 meldete er sich nach Utrecht in den Niederlanden ab, wobei anzunehmen ist, dass er zu seinem dort lebenden Bruder Herbert ging und wahrscheinlich bei diesem lebte. Als er
bereits ein halbes Jahr später wieder zu seinen Eltern zog, bezeichnet ihn das Hausstandsbuch als Mechanikerlehrling. Mit den Eltern zog er 1932 einige Häuser weiter in die Hohenzollernstraße 78
und von dort meldete er sich am 20. Januar 1935 nach Enschede in den Niederlanden ab, wo sein Zuzug für den 29. Januar in den Unterlagen dokumentiert ist. Zu diesem Zeitpunkt bezeichnen ihn die
Kasseler Einwohnermeldeunterlagen als „ohne Beruf“, was annehmen lässt, dass er als Jude keinen Ausbildungsplatz mehr bekommen hatte und auch keine berufliche Tätigkeit ausüben konnte.
Bei Pauls Hochzeit 1935 war Hans Wolfgang wie seine Mutter und vermutlich auch sein Vater dabei, der 1935 als unheilbar Kranker nach Holland gereist war, um sich von seinen Söhnen zu
verabschieden. Herbert Lewandowski beschreibt den endgültigen Abschied von ihm am Zug: „Er reichte mir vom Fenster aus noch einmal die Hand, zog dann das Fenster herauf und verschwand. Und ich
stand auf dem Bahnsteig und sagte mir stumm: ‚Dieser Mann war mein Vater, mein inniggeliebter Vater – er geht von mir fort, um allein, einsam zu sterben – und ich stehe hier tatenlos – und lasse
den gehen, den mir niemals ein anderer Mensch ersetzen wird.‘ Noch heute wird es mir kalt und heiß, wenn ich an diesen Abschied im Oktober 1935 in Utrecht denke“. Bei der Beerdigung des Vaters
1936 in Kassel konnten die Söhne nicht dabei sein, weil es ihnen zu gefährlich schien, nach Deutschland einzureisen, wie Paul sich erinnert, der stattdessen in der Amsterdamer Synagoge für seinen
Vater betete.
Er schildert den Bruder Hans als insbesondere künstlerisch sehr talentierten Menschen, der sehr gut fotografierte. Diese Talente verhalfen ihm dazu, seinen Lebensunterhalt durch eine Arbeit in
der Textilindustrie zu verdienen, indem er Muster auf Druckwalzen gravierte bzw. diese in der Designabteilung entwarf. Über seinen Vermieter in der Emmastraat 137 in Enschede, wo er 1939 lebte,
hatte er vielleicht auch Kontakt zu Künstlerkreisen. Für das gleiche Jahr ist überliefert, dass der Schachspieler Hans Lewandowski an einem Wettbewerb der örtlichen Zeitung teilnahm.
Als Erbengemeinschaft nach ihrem Vater konnten die Söhne noch Verkäufe kleinerer Parzellen in Rothenditmold und Kirchditmold realisieren, die dazu dienten, eine bestehende Grundschuld des Vaters zu begleichen. Bevollmächtigte war dabei seit 1936 die Mutter Lina, die allerdings im August 1939 – gerade noch vor Beginn des Krieges - selbst in die Niederlande „auswanderte“ und diese Vollmacht Willi Engelbert übertrug. Zu dieser Zeit gab sie das gemeinsame noch vorhandene Vermögen ihrer Söhne mit 164,35 RM auf einem Kreditsperrkonto und zwei kleinen Grundstücken im Wert von ca. 2.500 RM an. In Enschede lebte sie vermutlich bei ihrem Sohn Hans, allerdings ist sie in den Einwohnermeldeakten nicht verzeichnet.
Auch Hans war bis dahin geraten und vielleicht auch angeboten worden, die Niederlande zu verlassen, er war aber im Gegensatz zu seinen Brüdern, die sich inzwischen in den USA bzw. Paris befanden, dort geblieben. Dafür macht Paul in seinen Erinnerungen Hans‘ Sorge um seine Mutter verantwortlich, der sich um sie gekümmert, sich regelrecht aufgeopfert habe.
Westerbork: Jüdinnen und Juden besteigen einen Zug nach Auschwitz
Wie für fast alle jüdischen Deutschen in den Niederlanden bedeutete die Flucht dorthin angesichts der Besetzung Hollands durch Deutschland keine Rettung vor dem Völkermord. Caroline Lewandowski und ihr Sohn Hans wurden verhaftet und zunächst im Durchgangslager Westerbork interniert. Hans war dort gefangen vom 3./5. Oktober 1942 und wurde am 19. Oktober in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo er am 1. Dezember ums Leben kam. Seine Mutter Lina deportierte man am 11. Mai 1943 in das Vernichtungslager Sobibor, wo sie am 14. Mai unmittelbar nach der Ankunft ermordet wurde. Ihre in Kassel verbliebene Schwester Dora Mosberg war am 9. Dezember 1941 nach Riga deportiert worden und kam dort ums Leben.
Im Oregon Holocaust Memorial in Portland (USA) wird an diese drei Ermordeten namentlich erinnert. Auf dem neuen jüdischen Friedhof in Bettenhausen haben Paul und Herbert Lewandowski auf dem Grab ihres Vaters Jakob eine Tafel zum Gedenken an Mutter und Bruder angebracht und in Enschede erinnern Stolpersteine an sie. In ihrer ‚Überlebensgeschichte‘ „Lewan, sieh zu!“ hat Christine Brückner ihrem Freund Herbert Lewandowski und seiner Familie ein ‚literarisches Denkmal‘ gesetzt. Sie beginnt so: „Er sucht den jüdischen Friedhof in K. auf; die Gräber sind eingesät, der Friedhof wird von der Stadt in Ordnung gehalten. Blumen wären ihm lieber, aber er kann sich die Kosten für den Gärtner nicht leisten. Das Postscheckkonto, das er noch lange Zeit in der Bundesrepublik unterhielt, wurde inzwischen wegen Geringfügigkeit aufgelöst. Der Regen hat die Grabinschrift ausgewaschen. Mit Pinsel und Farbe zieht er die Namen und Daten nach. Jacob L., 1860-1936, sein Vater; gestorben und begraben in K. Sieben weitere Gräber und eine Gedenktafel für Lina L.-Mecca, geb. 2.2.1875 und Hans L., geb. 10.2.1911; beide umgekommen in Polen: die Mutter und der jüngere Bruder. Die hebräischen Inschriften auf der Rückseite kann er nicht lesen“.
Wolfgang Matthäus, August 2024
Quellen und Literatur
Interview mit Paul W.
Lavender (Lewandowski) (Audio und Text)
HHStAW: Best. 519/3 Nr. 36709 (Devisenakten Hans Wolfgang Lewandowski)
Stadsarchiv Enschede: Einwohnermeldeunterlagen
Stadtarchiv Kassel: A 3.32 HB Hausstandsbücher Hohenzollernstraße
Bundesarchiv: Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 - 1945
Adressbücher Kassel
Christine Brückner, Überlebensgeschichten, erstmals Frankfurt/M. u.a. 1973
Lee van Dovski (Herbert Lewandowski), Schweizer Tagebuch eines Internierten, Utrecht 1946
Joods Monument (Website zur Dokumentation jüdischer Opfer des Holocaust in den Niederlanden)
Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13, Kassel 2014
Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945, Kassel 1986
Wikipedia-Artikel zu Louis Lewandowski
Wikipedia-Artikel zu Manfred Lewandowski
Wikipedia-Artikel zu Herbert Lewandowski