1917 war das aus Berlin stammende Ehepaar Jenny (geb. 1864) und Siegfried Fraenkel (geb. 1858) aus beruflichen Gründen nach Kassel gekommen und in die Kaiserstraße 13 eingezogen. Als
Oberregierungsrat bei der Reichsbahn war Siegfried Fraenkel einer der ganz wenigen jüdischen Beamten in der Stadt. Innerhalb der jüdischen Gemeinde betätigte er sich als Mitglied der Sinai-Loge.
1932 zog das Ehepaar in eine 5-Zimmerwohnung in der Wilhelmshöher Allee.
Am 1. September 1939 kehrte das Ehepaar Jenny (geb. 1864) und Siegfried Fraenkel (geb. 1858) in das Haus Kaiserstraße 13 zurück, in das es zum ersten Mal 1917 eingezogen war und in dem es 15
Jahre gelebt hatte. Dieses Mal kamen die beiden nicht freiwillig.
Bereits seit dem Erreichen der Altersgrenze 1923 pensioniert und Ruhegehaltsempfänger der Deutschen Reichsbahn, war Siegfried Fraenkel nicht mehr vom „Gesetz zur Wiederherstellung des
Berufsbeamtentums“ im Jahr 1933 betroffen und auch nicht von Maßnahmen, die die Verdrängung von Juden aus dem Wirtschaftsleben zum Ziel hatten. Umso mehr aber trafen das Ehepaar dann andere
Verfolgungsmaßnahmen, die nach der „Kristallnacht“ brutal verschärft wurden.
Ein Gesetz vom April 1939 hob jeglichen Schutz für jüdische Mieter auf. Gerichte hatten bereits vorher schon oft festgestellt, dass die außerhalb der „Volksgemeinschaft“ stehenden Juden
dementsprechend auch keiner Hausgemeinschaft angehören konnten und deshalb aus ihren Wohnungen vertrieben werden konnten. Im Frühjahr erhielten die Wohnungsämter im ganzen Reich die
Aufforderung, Juden in bestimmten Wohnvierteln, besser aber noch in „Judenhäusern“ zu konzentrieren. Hier schien den Verfolgern „die Kontrolle der Juden durch das wachsame Auge der gesamten
Bevölkerung (…) besser, als wenn Sie Juden (…) in einem Stadtviertel haben“, wie Barkei zitiert. Den Wohnraum der Juden beschränkten die Wohnungsämter auf ein Minimum. Familien wurden in
gemeinsame Wohnungen eingewiesen, mehrere Einzelpersonen hatten fortan mitunter ein Zimmer zu teilen. Die Vertreibung jüdischer Mieter machte „Volksgenossen“, die in die frei werdenden Wohnungen
einzogen, unmittelbar zu Nutznießern der Judenverfolgung.
Das Ehepaar Fraenkel musste infolge dieser Maßnahmen am 1. September 1939 zwangsweise seine Wohnung in der Wilhelmshöher Allee räumen und unfreiwillig in die Kaiserstraße zurückkehren, aber jetzt
dort in beengten Verhältnissen in nur einem Zimmer wohnen. Es konnte den Großteil seiner Wohnungseinrichtung nicht mitnehmen. Dieser wurde bei ihrem Auszug noch im Haus versteigert, wie die
Hausbesitzerin nach dem Krieg bezeugte.
Dem ersten Zwangsumzug des Ehepaars Fraenkel 1939 folgte am 30. Januar 1942 der zweite in die Schillerstraße 7, nun in ein reines „Judenhaus“, das für viele die letzte Station vor ihrer
Deportation war. Ein Zug der Reichsbahn verschleppte den ehemaligen Reichsbahnbeamten, inzwischen fast 84 Jahre alt, und seine 77-jährige Ehefrau am 9. September 1942 nach Theresienstadt. Dazu
hatten die beiden einen Heimeinkaufsvertrag für mehr als 2.000 RM abschließen müssen, der ihnen vorgaukeln sollte, dass sie in eine Art Altersheim gebracht würden. In diesem „Vertrag“ hieß es
zynisch: „Das Recht der anderweitigen Unterbringung bleibt vorbehalten.“ Für das betagte Ehepaar bedeutete dies bereits Ende September die Deportation in das Vernichtungslager Treblinka und damit
in den Tod.
Die beiden Töchter Lotte (geb. 1889) und Ilse (geb. 1900) gelangten rechtzeitig nach Palästina. Ilse hatte 1922 in Kassel den Arzt Hans Plonsker, der gleichfalls aus Berlin stammte, geheiratet.
Der Sohn Simon (Shimon) wurde 1926 in Jerusalem geboren. Die Familie lebte also bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus in Palästina. Simon war 1930/31 von Haifa aus für etwa eineinhalb
Jahre zu den Großeltern in die Kaiserstraße gekommen.
Die erzwungene Rückkehr des Ehepaars Fraenkel in die Kaiserstraße 13 markiert einen Wendpunkt in der Geschichte des Hauses. Hier konzentrierten die Ämter seit der zweiten Hälfte des Jahres 1939
alteingesessene Juden aus der Stadt, aber auch diejenigen, die seit 1933 aus der ländlichen Region vertrieben worden waren und zunächst andernorts gewohnt hatten.
Wolfgang Matthäus
Quellen
HHStAW Abt. 518 (Entschädigungsakte Fraenkel)
Literatur
Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13. Geschichten vom jüdischen Leben und seiner Zerstörung im Vorderen Westen, in Kassel und der Region, Kassel 2014
Barkai, Avraham I Mendes-Flohr, Paul: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. IV Aufbruch und Zerstörung 1918-1945, München 1997