„Kassel, am 13. Juli 1935
Der Oberstaatsanwalt zu Kassel hat mitgeteilt,
daß der Arbeiter Johannes Becker,
33 Jahre alt,
wohnhaft zu Kassel, Kastenalsgasse 27,
geboren zu Niederzwehren, Landkreis Kassel,
am 24. September 1901, geschieden,
zu Kassel, Auf dem Graß 12, am zwölften Juli des Jahres neunhundertfünfunddreißig vormittags um fünf Uhr verstorben sei.“
So der Wortlaut der zum Teil in Sütterlin geschriebenen Urkunde aus dem Stadtarchiv Kassel. Familien- und Ortsnamen wurden in Lateinschrift und alles andere in Sütterlin geschrieben. Dabei ist aus einem Staatsanwalt eine Staatsanstalt geworden.
Der Sterbeort „Auf dem Graß 12“, Datum und Uhrzeit lassen erkennen, dass Johannes Becker im damaligen Zuchthaus Wehlheiden hingerichtet worden ist.
Becker ist am 27. November 1934 vom Schwurgericht Kassel nach zweitägiger Verhandlung wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Aufruhr zum Tode verurteilt worden.
Am 10 Juni 1931 fanden in der Kasseler Altstadt rund um den Altmarkt und den angrenzenden engen Gassen von der KPD einberufene Kundgebungen und Demonstrationen gegen die Auswirkungen der Brüningschen Notverordnungen statt. Die Wohnviertel der Kasseler Altstadt waren in diesen Jahren eine Domäne der Arbeiterparteien SPD und KPD. Die Unruhen zogen sich über Stunden hin. In der Marktgasse, der Wildemannsgasse und am Martinsplatz hielt sich eine fast 1000-köpfige Menschenmenge auf. Die Leute waren wütend. Es fielen Schüsse. Versuche der Polizei die Straßen zu räumen, schlugen fehl. Gegen 23 Uhr hatte sich die Menge in der Marktgasse, die auf den Altmarkt führte, festgesetzt. Polizeiknüppel wurden eingesetzt. Erneut fielen Schüsse. Der Polizeiwachtmeister Willi Kuhlmann wurde von einer Kugel an der Leiste getroffen. Auf Grund innerer Blutungen ist Kuhlmann noch in der Nacht verstorben.
Die damaligen Untersuchungen führten zur Anklagerhebung gegen den Organisationssekretär der KPD Hessen-Waldeck Ernst Melis und zu seiner Inhaftierung im Juni 1931. Die Anklage lautete: „Ermordung eines Schutzpolizisten“. Der Staatsanwalt hatte 7 Jahre Zuchthaus beantragt. Diesem Antrag hat das Gericht mangels Beweisen nicht entsprochen. Er wurde allerdings zu einem Jahr Gefängnis wegen „Landfriedensbruchs und Waffenbesitzes“ verurteilt, die er in Kassel und Wiesbaden verbüßte.
Das war zu Zeiten der Weimarer Republik. Nach der Machtübertragung an die Nazis wurde alles anders. Polizei und Justiz wurden gesäubert. Tausende von Funktionären und Mandatsträgern der KPD, SPD und der Gewerkschaften wurden inhaftiert. In SA-Sturmlokalen wurden die politischen Gegner misshandelt und gedemütigt. Allein im Konzentrationslager Breitenau waren im Zeitraum von 10 Monaten fast 500 politische Schutzhäftlinge gegen Recht und Gesetz inhaftiert. Die faschistischen Machthaber machten sich auch an die „juristische“ Aufarbeitung von ungeklärten Tötungsfällen. Willi Belz, kommunistischer Widerstandskämpfer aus Kassel, schreibt in seinem 1978 erschienenen Erinnerungsbuch „Die Standhaften“, dass 49 Kommunisten reichsweit von dieser Aufarbeitung betroffen waren, weil sie an gewaltsamen Zusammenstößen vor 1933 mit Todesopfern bei SA, SS und der Polizei beteiligt waren.
Johannes Becker ist am 24. September 1901 im damals noch selbständigen Dorf Niederzwehren geboren. Mutter Sophie Becker war verwitwet. Nach Eheschließung mit Adam Spohr war Johannes bis 1912 im Haushalt der Eltern. Die Kindheit war geprägt von engen Wohnverhältnissen in Hinterhäusern und bescheidenen Lebensumständen. Von 1913 bis 1919 war er bei einem Bauern in Sickeberg bei Asbach und hat dort als Kind und Heranwachsender tüchtig in der Landwirtschaft helfen müssen. Ab 1919 bis 1921 hat er bei seinen Eltern gewohnt und als Hilfsarbeiter sich über Wasser gehalten. Zwischen 1922 und 1932 summieren sich Gefängnisstrafen für Diebstahl, Betteln und Sachbeschädigung auf zusammen 6 Jahre. Dazwischen war er ab 1928 auf Wanderschaft und hat 1929 in Zittau Hedwig Helaß, JG. 1898 geheiratet.
Ende 1929 ist er wieder in Kassel mit eigener Wohnung in der Judengasse und später Schäfergasse. Ehefrau Hedwig kommt 1930 nach Kassel. In diese Zeit fällt auch sein Eintritt in die KPD. Bei der Machtergreifung in 1933 ist er unbehelligt geblieben.
Als die Nazis daran gingen den Todesfall Kuhlmann aus 1931 aufzuarbeiten, ist Becker in ihr Visier geraten. Dabei dürfte auch die Vorstrafenliste eine Rolle gespielt haben. Am 6. Juni 1934 ist er verhaftet und bei sich über Monate hinziehenden Verhören durch Beamte der seit 1933 bestehenden Gestapostelle Kassel bearbeitet worden. In der 1934-er Ermittlungsakte zu diesem Fall sind eine Fülle von Protokollen mit Geständnissen und Widerrufen, sowie sich widersprechenden Zeugenaussagen dokumentiert. Am Schluss ist alles passgenau auf Becker zugeschnitten. Die Mitangeklagten bleiben straffrei, weil ihre erpressten Aussagen Becker entscheidend belasten. Auch die Aussagen der Ehefrau tragen zur Verurteilung bei. Die Ehe wird im Laufe des Verfahrens geschieden. Bei allen Verhören ist als Vernehmungsbeamter der Kriminalobersekretär Christian Hellwig beteiligt. Hellwig hat sich bei Kriegsende aus Furcht vor Strafverfolgung das Leben genommen. Ob Johannes Becker bei den Ermittlungen des Jahres 1931 eine Rolle spielte, ist nicht bekannt. In den Ermittlungsakten 1934 wird das Verfahren 1931 überhaupt nicht erwähnt.
Das Reichsgericht in Leipzig hat Beckers Revision ohne mündliche Verhandlung verworfen. Zwei handschriftliche Wiederaufnahmeanträge sind unberücksichtigt geblieben. Ein Gnadengesuch lehnt er entschieden ab.
„Diesen Weg zu beschreiten, erachte ich als größte Schmach. Ich bin bereit den Tod, den ich wider Recht und Gesetz erleiden soll, mit Ruhe zu ertragen. Ich bin kein Mörder. . . . . Denn dieser Weg zur Richtstätte ist eine Demonstration für sich.“
Ein Stolperstein erinnert an Johannes Becker als Opfer der faschistischen Terrorherrschaft.
Quellen und Literatur:
StadtA KS Bestand A 3.35 | Meldekartei
Adressbücher Kassel
HStA Marburg 274 Kassel Nr. 992 Bd. 1-2
Willi Belz, Die Standhaften, Kassel 1978
Jochen Boczkowski, Mai 2016