Der angesehene Arzt Dr. John Katzenstein floh mit seiner Familie bereits 1933 aus Kassel. Eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern des Friedrichsgymnasiums hat das außergewöhnliche Schicksal der Familienangehörigen eingehend recherchiert und einzeln beschrieben. Diese Biografien finden Sie hier.
Jonas-Maximilian Heidrich (Jgst. 11) hat darüber hinaus die zahlreichen Lebensstationen der Familienmitglieder (Insbesondere die in der Sowjetunion) kartografisch sichtbar gemacht. Diese beeindruckende Arbeit finden Sie auf google earth. Zur Karte gelangen Sie hier.
Die Arbeit der Gruppe mündete in die Verlegung von Stolpersteinen am 29. Juni 2024, die wiederum vom FG gestaltet wurde.
John Katzenstein wurde am 08.01.1890 in Kassel geboren. Dort lebte er zusammen mit drei Brüdern und einer Schwester. Johns Vater starb sehr früh und seine Mutter kümmerte sich nur wenig um Kinder und Haushalt. John besuchte das Wilhelmsgymnasium in Kassel, wo er am 28. Februar 1908 das Abitur absolvierte. Er studierte dann Medizin in München, Freiburg und Heidelberg. Seinen Doktortitel erhielt er 1913/14. Im ersten Weltkrieg diente John Katzenstein als Arzt, versorgte kranke oder verletzte Soldaten und bekleidete einen höheren Rang einer Kavallerie-Einheit. Zudem erhielt er das Eiserne Kreuz der ersten und zweiten Klasse.
1922 heiratete er seine Frau Resi Fraenkel, Tochter des renommierten Berliner Mediziners Dr. James Fraenkel (1859- 1935) und dessen Frau Paula (geb. Barth, 1867-1942). Mit Resi bekam er am 20.09.1923 sein erstes Kind, Kathrin. Am 09. September 1925 folgte Lore als zweite Tochter. Zusammen wohnte die Familie zuerst in der Viktoriastraße 15 (heute: BürgermeisterBrunner-Straße) in Kassel, bis sie 1928 nach Kirchditmold in die Riedwiesensiedlung in ein neugebautes Haus umzogen. Über einem Fischgeschäft in der Wilhelmsstraße 15 in Kassel eröffnete er eine Arztpraxis. Die Tochter Ilse kam am 30. März 1928 auf die Welt. John kümmerte sich als Arzt um die Nachbarschaft und betreute sogar Kranke bei sich zu Hause. Er stellte Krankschreibungen aus und schützte seine jüdischen Mitmenschen.
Nach Hitlers Machtergreifung Anfang 1933 musste die Familie Katzenstein in Kassel Angriffe verschiedenster Art erleiden: Die Fenster der Küche wurden eingeworfen, Hitlerplakate an die Haustür geklebt und antisemitische Lieder gesungen. Schnell erkannte John die Gefahr, der seine Familie ausgesetzt war, und floh noch im Sommer desselben Jahres.
Zuerst ging die Flucht nach Berlin zu seinen Schwiegereltern. Später kamen auch seine Frau und die Kinder nach. Nacheinander flohen sie weiter nach Frankreich. Auch dort half John Verletzten und Kranken. Er unterstützte Deutsche bei der Flucht nach Spanien, sorgte sich um die Bildung seiner Töchter und reiste schließlich, in der Hoffnung auf eine Anstellung als Arzt, in die Sowjetunion. Dort arbeitete er zuerst als Internist und dann als Neuropathologe auf der Halbinsel Krim. Ein ihm gut bekannter Arzt bot ihm eine Stelle in einer großen psychiatrischen Klinik in Nikolskoje an, die er annahm. Aufgrund eines Chefarztwechsels suchte John schließlich eine neue Anstellung, die er in Dnipropetrowsk (Ukraine) fand.
Mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 endete auch dort das bis dahin relativ ruhige Leben: John Katzenstein hatte Angst um seine Familie und sorgte dafür, dass seine Frau Resi mit den drei Töchtern mit einem Zug aus Dnipropetrowsk fliehen konnten. Er selbst musste als Arzt zunächst in der Stadt bleiben. Schließlich konnte John Dnipropetrowsk doch noch verlassen und fand seine Familie nach einem etwa zweiwöchigen Fußmarsch am 09.09.1941, dem 16. Geburtstag seiner Tochter Lore, in Budjonnowsk im Kaukasus wieder. Nach einer weiteren beschwerlichen Reise traf die Familie schließlich in der Stadt Sherbakty (Kasachstan) ein.
Dort arbeitete John als Arzt, bis er im November 1942 als angeblicher deutscher Spion denunziert und als politischer Gefangener zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Im Gefängnis übersetzte er Briefe und bekam aufgrund der dortigen Bedingungen den Rat, die Haftanstalt gegen eine Arbeit in einem Lager zu tauschen. So musste John schließlich acht Jahre lang sehr harte und kräftezehrende Arbeit in Sibirien verrichten. Je nachdem, wofür man ihn benötigte, war er einmal Arzt und dann wieder Holzfäller. Seine Ehefrau Resi sah er nach ihrem letzten Gefängnisbesuch (vermutlich 1942) nie wieder. Sie starb am 22.02.1944 in Zaborovka (Kasachstan) elendig an „Hungertyphus“.
Am 26. November 1954 schrieb John in einem Brief an seine Töchter, dass er frei sei. Er hielt sich in dem sibirischen Dorf Stepanovka in der Nähe der Stadt Krasnojarsk als Kuhhirte auf. Noch im selben Monat begab sich seine Tochter Lore allein auf einen wochenlangen strapaziösen Fußmarsch entlang des Flusses Jenissej durch die sibirische Kälte und fand ihren Vater schließlich in einem heruntergekommenen Haus im Dorf Stepanovka. John war tief berührt. Sie machten sich bereit, um nach Kasatschinskoje in der Region Krasnojarsk zu reisen, jedoch war er körperlich nicht in der Lage, die Reise fortzuführen. Mit einem Pferdeschlitten wurde er nach Sacharovka in Sibirien gebracht. Endlich konnte John durch den beherzten Einsatz seiner Tochter weiterreisen.
An seinem Geburtstag im Jahr 1956 überlebte er seinen ersten Schlaganfall. Sein Zustand verschlechterte sich dann drastisch. Wochenlang lag er ohne Bewusstsein im Krankenhaus. Drei Monate später erlitt er einen zweiten Schlaganfall. Im August 1958 bekam John Katzenstein einen dritten und letzten Schlaganfall in Moskau. Die Familie erhielt schließlich eine Entschädigung für John, Lore und Kathrin. Für die verstorbene Mutter Resi und Tochter Ilse gab es jedoch kein Geld. Zusammen zogen Lore, Kathrin, Ilse und John nach Rostow am Don. Dort starb John am 30. September 1963 mit 73 Jahren infolge einer Lungenembolie.
Quellen: StadtA KS, S17, Nr. 34.; StadtA KS, S17, Nr. 45.; StadtA KS, S17, Nr. 25.; Stadt AKS, S1, Nr. 3417
Hannah Webel, Asli Ogur und Shirin Fraij
(Überarbeitung von Daaje van Ophuysen und Christine Jakubowsky, Januar 2024)
Schreiben Dr. John Katzensteins an deutsche Behörden - Eidesstattliche Erklärung von Hanka Glowiewicz (Tel Aviv)
Resi Katzenstein wurde am 23.10.1894 in Berlin-Steglitz als Tochter des renommierten Berliner Arztes Dr. James Fraenkel und seiner Frau Paula geboren. Sie war Jüdin und heiratete 1922 in Kassel Dr. John Katzenstein, einen in der Stadt renommierten Psychiater. Zusammen mit ihm und ihren drei Töchtern lebte sie seit 1928 in der Riedwiesensiedlung in Kassel-Kirchditmold. Als Familie waren sie recht wohlhabend, da John Arzt war.
Resi war ausgebildete Krankenschwester sowie Turn- und Handarbeitslehrerin und hatte nach dem Ersten Weltkrieg ein Medizinstudium begonnen, was sie jedoch aufgrund ihrer Heirat nicht abschloss. Nach Hitlers Machtergreifung 1933 nahm die Judenfeindlichkeit auch in der idyllischen Riedwiesensiedlung zu. Der Familie wurden die Scheiben eingeschlagen und in den benachbarten Häusern hisste man die Flaggen der NSDAP. Aus Angst vor weiteren tätlichen Übergriffen schloss Resi ihre Kinder im Badezimmer im Obergeschoss ihres Wohnhauses ein, wo sie sie einigermaßen sicher glaubte. Schließlich nahm sie die beiden älteren Töchter, Kathrin und Lore, aus der Schule – der Weg dorthin war zu riskant. Diese Bedrohungen und Anfeindungen sorgten schließlich dafür, dass die Familie Katzenstein den Entschluss fasste, zu flüchten.
Nachdem John schon im Juni 1933 nach Frankreich geflüchtet war, folgte Resi mit ihren Töchtern nach einem Besuch bei ihren Eltern in Berlin. Aufgrund eines erfolglosen Versuchs, ein Weingut zu bestellen, und zunehmender Anfeindungen verließ die Familie 1936 Frankreich wieder. Der Vater hatte inzwischen Hoffnung, in der Sowjetunion als Arzt Fuß zu fassen. Da ihre Familie Pogrome in Odessa miterlebt hatte und sie die große Entfernung zu ihren Eltern fürchtete, wollte Resi anfangs nicht in die Sowjetunion übersiedeln. Schließlich entschied sie sich aber doch dafür, dem Ehemann gemeinsam mit ihren Töchtern zu folgen. Sie wollte jedoch ihre Mutter Paula, die seit 1935 verwitwet war, noch einmal sehen und entschied, auf dem Weg in die Sowjetunion durch Deutschland hindurchzufahren. Dies war als Jüdin mit einem russischen Visum nicht ungefährlich. So traf sie im März 1936 in Berlin-Lankwitz ein. Es sollte ein Abschied für immer werden. Durch einen Bekannten beim Zoll kam die Familie trotz der Tatsache, dass ihr Vermögen lediglich in Deutschland abgehoben werden konnte, an ihr Geld. An der polnischen Grenze ließ man Resi und ihre drei Töchter trotz fehlender offizieller Abmeldung und eines Passvermerks, dass sie Jüdinnen seien, passieren. Laut ihrer Tochter Lore Katzenstein (1925-2013) kam Resi während der gesamten Flucht, die sehr kräftezehrend war, nie zur Ruhe.
Dies änderte sich auch in der Sowjetunion nicht, da sie auch dort von Ort zu Ort reisen mussten. An manchen Orten blieben sie zwar für geraume Zeit, jedoch nie länger als zwei Jahre. Im November 1942 wurde die Familie getrennt, da John als angeblicher deutscher Spion beschuldigt, festgenommen und später in ein sibirisches Arbeitslager deportiert wurde. Resi starb zwei Jahre später, am 22.02.1944, mit nur 49 Jahren in Zaborovka (Kasachstan) an „Hungertyphus“: "Mutti ist verhungert. Kein Mensch hat ihr geholfen”, erinnerte sich Tochter Lore in einem Interview aus den späten 1980-er Jahren.
Quellen: StadtA KS, S 17,Nr. 34
Jonas-Maximilian Heidrich
(Überarbeitung von Daaje van Ophuysen und Christine Jakubowsky Januar 2024)
Kathrin Katzenstein wurde am 20. September 1923 in der Viktoriastraße 15 (heute: Bürgermeister-Brunner-Straße) in Kassel geboren. Sie war das erste Kind von Dr. John Katzenstein, einem angesehenen Kasseler Arzt mit damaliger Praxis in der Wilhelmsstraße 15, und seiner Frau Resi, Tochter des renommierten Berliner Arztes Dr. James Fraenkel (1859-1935) und seiner Frau Paula (geb. Barth, 1867-1942). Am 09. September 1925 folgte Kathrins Schwester Lore. 1928 zog die jüdische Familie in ein neu gebautes Haus in der Riedwiesensiedlung nach KasselKirchditmold. Dort kam am 30. März 1928 Kathrins zweite Schwester, Ilse, auf die Welt.
Doch nach der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 wurde die Familie in der Siedlung beschimpft und bedroht: Die Fenster ihrer Küche wurden eingeworfen, die Außenseite ihrer Haustür mit Hitlerplakaten beklebt und auf der Straße ertönten antisemitische Lieder. Zum Schutz versteckten sich Kathrin und ihre Geschwister oftmals im Badezimmer im Obergeschoss des Hauses. Bereits im Sommer desselben Jahres floh die Familie deshalb zuerst nach Berlin zu den Großeltern und dann nach Frankreich. Kathrin beendete ihre Schulzeit in Frankreich vorerst mit dem Volksschulabschluss, da die Familie kein Geld hatte, um das Gymnasium zu finanzieren.
Nachdem Kathrins Vater bereits aufgrund der Aussicht, eine Anstellung als Arzt zu finden, in die Sowjetunion gereist war, beschloss die Mutter 1936 schließlich, ihm mit den Töchtern durch Deutschland nachzureisen. Nach einer schwierigen Fahrt hatten sie nun auch in der Sowjetunion Probleme, Essen zu organisieren, und litten oft an Krankheiten. Kathrin besuchte eine russische Schule in Nikolskoje, wo der Vater zunächst eine Anstellung in einer psychiatrischen Klinik gefunden hatte. Von 1937 bis 1939 kam Kathrin bei einer russischen Familie unter. Von dort aus unterstützte sie, zwölf Kilometer von Nikolskoje entfernt, zusammen mit ihrer Schwester Lore ihre Eltern. Aufgrund eines Chefarztwechsels suchte der Vater eine neue Anstellung. Die Familie zog nun nach Dnipropetrowsk (Ukraine), wo Kathrin (wie in der Sowjetunion damals üblich, nach zehn Schuljahren) am 17. Juni 1941 ihr Abitur absolvierte.
Nur wenige Tage danach, am 22. Juni 1941, überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Die einigermaßen glückliche Zeit war damit zu Ende. Die Familie setzte ihre Flucht zunächst ohne den Vater fort: Dr. John Katzenstein durfte als Arzt die Stadt nicht verlassen. Jedoch gab es mehrere Komplikationen. So mussten sie trotz Bombardierungen anderthalb Tage mit dem Zug fahren, um schließlich in einer Bauernwohnung im Nordkaukasus untergebracht und versorgt zu werden. Dort fand der Vater, der Dnipropetrowsk inzwischen doch verlassen konnte, seine Familie schließlich wieder. Zwischen September und November 1941 absolvierte Kathrin gemeinsam mit ihrer Schwester Lore Traktoristenkurse.
Danach, noch im November desselben Jahres, wurden sie als russische Deutsche deportiert und bei minus 40 Grad auf die Straße gesetzt. Schließlich kamen sie in der kasachischen Stadt Sherbakty an, wo der Vater für kurze Zeit erneut als Arzt arbeiten konnte. Im November 1942 wurde er als angeblicher deutscher Spion denunziert, zu 15 Jahren Haft verurteilt und von seiner Familie getrennt. Später musste er in verschiedenen sibirischen Lagern z. B. als Holzfäller arbeiten.
Kathrin und ihre Schwester Lore wurden währenddessen in einer Arbeiterarmee im Ural interniert, wo beide an so genanntem “Hungertyphus” erkrankten. Im Sommer 1943 fuhr Kathrin deshalb nach Sherbakty, um ihre Mutter Resi zu besuchen. Da es dort so gut wie nichts zu essen gab, starb Resi Katzenstein mit nur 49 Jahren am 22.02.1944. Später beantragte Kathrin zusammen mit ihrer jüngsten Schwester Ilse einen russischen Pass, um sich frei in der Sowjetunion bewegen zu können.
Von 1947 bis 1951 absolvierte Kathrin eine Ausbildung an einer Pädagogischen Hochschule - wo genau, ist unklar. Kathrin lebte jedenfalls vorübergehend bei ihrer Schwester Lore, bis sie zu ihrer anderen Schwester Ilse zog. 1954, während Kathrin im Kaukasus erfolgreich als Lehrerin arbeitete, schrieben die Schwestern einen gemeinsamen Brief an den Vater und schickten ihm Medizin, die er im Lager in Sibirien dringend benötigte. Als sie im November 1954 erfuhren, dass er frei sei, und Lore ihn nach einer anstrengenden Suche endlich fand, nahmen Kathrin und Ilse ihn warmherzig auf. Von den Entschädigungen, die die Familie für John, Lore und auch Kathrin bekommen hatte (für die Mutter und Ilse erhielten sie jedoch nichts) und dem Erbe des Großvaters kauften sie sich 1961 ein Haus in Rostow am Don. Der Vater hatte in den Vorjahren drei Schlaganfälle erlitten und starb am 30. September 1963 an einer Lungenembolie.
Brief Kathrin Katzensteins über den Gesundheitszustand ihres Vaters aus dem Jahr 1959.
Kathrin lebte nach dessen Tod noch einige Jahre gemeinsam mit ihren beiden Schwestern in Rostow, wo sie an der Universität die Fächer Englisch und Deutsch unterrichtete. Nachdem ihre jüngste Schwester Ilse 1971 an einem Hirntumor verstarb, verliert sich die Spur von Kathrin Katzenstein. Sie muss jedoch, vermutlich mit ihrer Schwester Lore, in den späten 1980-er Jahren zurück nach Deutschland gekehrt sein: Auf dem jüdischen Friedhof in Frankfurt am Main, wo Lore Katzenstein später als Übersetzerin arbeitete, befindet sich Kathrins Urnengrab. Kathrin Katzenstein starb im Jahr 2007 mit 84 Jahren.
Quelle: StadtA KS, S17, Nr. 34.; StadtA KS, S17, Nr. 45.; StadtA KS, S17, Nr. 25.; StadtA KS, S1, Nr. 3417
Hannah Webel, Asli Ogur und Shirin Fraij
(Überarbeitung von Daaje van Ophuysen und Christine Jakubowsky Januar 2024)
Lore Katzenstein wurde am 09. September 1925 in Kassel geboren. Dort wohnte sie mit ihren jüdischen Eltern und der älteren Schwester Kathrin zunächst in der Viktoriastraße 15 (heute: Bürgermeister-Brunner-Straße). Der Vater, Dr. John Katzenstein, war ein angesehener Arzt mit einer Praxis in der Kasseler Wilhelmsstraße 15. Daher waren sie eine wohlhabende Familie und konnten 1928 ein Haus in der Riedwiesensiedlung in KasselKirchditmold beziehen. Dort kam im selben Jahr Lores jüngere Schwester Ilse zur Welt.
Mit Hitlers Machtergreifung Anfang 1933 änderte sich über Nacht die bis dahin scheinbar gute und vertrauensvolle Beziehung zu den Nachbarn. Plötzlich wandten sie sich von der Familie ab. Das Küchenfenster wurde mit einem Stein eingeworfen, die Haustür mit Hitlerplakaten beklebt und Hakenkreuzfahnen aus den Fenstern gehängt, vor der Haustür der Familie ertönten Nazilieder. Der sicherste Platz für Lore und ihre Geschwister war das Bad im Obergeschoss des Hauses, weil die kleinen Fenster nur schwer erreichbar waren. Aufgrund fortgesetzter massiver Bedrohungen und Einschüchterungen floh die Familie im Sommer 1933 schließlich aus Kassel.
Auf ihrem Weg machten sie einen kurzen Halt in Berlin bei Lores Großeltern. Unterstützt von Lores Großvater, dem renommierten Berliner Arzt Dr. James Fraenkel, erwarb die Familie 1934 ein Weingut in der Nähe von Bordeaux in Frankreich. Dort lebten sie von Viehzucht und Blumenverkauf, die damals zehnjährige Lore musste ihre Mutter auf dem Markt unterstützen. Aber auch in Frankreich sah Vater John Katzenstein letztlich keine Zukunft für seine Familie. Er wünschte sich für seine Töchter eine höhere Schulbildung und für sich eine sichere Anstellung als Arzt. Diese Möglichkeiten sah er in der Sowjetunion, wo der Schulbesuch kostenlos war und Mediziner gebraucht wurden.
Somit verließen die Katzensteins Ende 1935 Frankreich. Bei einem kurzen Besuch in Berlin sah Lore ihre Großmutter Paula, inzwischen verwitwet, zum letzten Mal. Im März 1936 traf Lore mit ihrer Mutter und den beiden Schwestern in Moskau ein. Ihr Vater hatte eine Stelle als Arzt auf der Halbinsel Kertsch (Krim) angetreten. Lore besuchte nun mit ihren Schwestern die dortige Schule und lernte Russisch. 1937 zog die Familie aufgrund eines erneuten Stellenwechsels des Vaters nach Nikolskoje, wo Lore bis 1939 zur Schule ging. Ab Frühjahr 1940 arbeitete John Katzenstein in Dnipropetrowsk (Ukraine). Im Sommer 1941 beendete Lore dort die 9. Klasse und war zum ersten Mal verliebt - doch das Glück endete abrupt mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am "Damit ist unser Leben aus gewesen", sagte Lore später in einem Interview aus den 1980-er Jahren.
Die Familie floh nun erneut, diesmal bis in den Nordkaukasus, wo Lore mit ihrer Schwester Kathrin zwischen September und November 1941 Traktoristenkurse absolvierte. Von dort aus wurden sie als russische Deutsche abermals umgesiedelt und kamen schließlich 1942 in Sherbakty (Kasachstan) an. Dort wurde Lores Vater als angeblicher deutscher Spion denunziert, inhaftiert und von seiner Familie getrennt. Lore wurde ab Dezember 1942 mit ihrer Schwester Kathrin in einer Arbeiterarmee im Ural festgehalten. Nach ihrer Internierung sah Lore ihre Mutter nie wieder: Resi Katzenstein starb am 22.02.1944 in Zaborovka, 44 Kilometer entfernt von Sherbakty, an "Hungertyphus". Übrig blieben nur noch Lore und ihre zwei Schwestern.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs endete das Leid der Familie jedoch nicht. Lore wurde 1946 aufgrund von Erfrierungen aus dem Lager abtransportiert und schrieb sich einige Zeit später heimlich an der Hochschule in Orsk im Süd-Ural ein, um Schwermaschinenbau zu studieren. Acht Jahre später, 1954, trafen sich die drei Schwestern in Jessentuki, einem Kurort im Nordkaukasus, um ihrem Vater Medizin in ein sibirisches Lager zu schicken, wo er inzwischen harte Arbeit verrichten musste. Daraufhin bekamen die Schwestern im November 1954 einen Brief von ihm, in dem er schrieb, dass er frei sei und um Unterstützung bei der Übersiedlung in die sibirische Stadt Krasnojarsk bat. Lore packte daraufhin etwas Leberwurst, Bettwäsche und ein Feldbett zusammen und fuhr drei Tage lang mit dem Zug nach Sibirien. Unterstützt und versorgt von einem mitfühlenden Ehepaar, wanderte sie bei minus 62°C durch die Nächte. Nach langer Suche entlang des sibirischen Flusses Jenissej fand sie ihren Vater heruntergekommen in dem kleinen Dorf Stepanovka, wo er als Hirte arbeitete. Sie pflegte ihn und half ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Vom restlichen Erbe des Großvaters Fraenkel und dem Erlös aus den Entschädigungen, die die Familie Katzenstein für Lore, ihren Vater und Kathrin bekommen hatte (für die verstorbene Mutter Resi und die Schwester Ilse gab es keine Entschädigung), kauften sie sich schließlich 1961 ein Haus in Rostow am Don. Für eine kurze Zeit lebten sie zusammen, bis der Vater 1963 nach drei Schlaganfällen starb.
Die jüngste Schwester, Ilse, erlag 1971 einem Hirntumor. Jahre später, vermutlich Ende der 1980-er Jahre, kehrte Lore Katzenstein wieder nach Deutschland zurück und arbeitete als Übersetzerin in Frankfurt am Main. Um das Jahr 2008 besuchte sie noch einmal ihr Elternhaus in der Kleebreite 21 in Kassel und nahm Kontakt mit den damaligen Mietern auf. Lore Katzenstein starb am 28. Juni 2013 mit 87 Jahren in Frankfurt am Main.
Quellen: StadtA KS, S17, Nr. 34.; StadtA KS, S17, Nr. 45.; StadtA KS, S17, Nr. 25.; Stadt AKS, S1, Nr. 3417
Hannah Webel, Asli Ogur und Shirin Fraij
(Überarbeitung von Daaje van Ophuysen und Christine Jakubowsky Januar 2024)
Ilse Katzenstein wurde am 3. März 1928 in der Riedwiesensiedlung in Kassel-Kirchditmold als dritte und jüngste Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie geboren: Ihre Mutter war die Tochter des renommierten Berliner Arztes Dr. James Fraenkel (1859-1935) und seiner Frau Paula (geb. Barth, 1867-1942), der Vater, Dr. John Katzenstein, betrieb eine florierende psychiatrische Praxis in der Kasseler Wilhelmsstraße 15.
Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 fand das bis dahin geruhsame Leben in der Siedlung ein jähes Ende: Die Familie Katzenstein erlitt nun Angriffe verschiedenster Art. Das Küchenfenster wurde mit einem Stein eingeworfen, die Haustür mit Hitlerplakaten beklebt und in der Nachbarschaft wurden Hakenkreuzfahnen geschwungen. Zum Schutz versteckten sich Ilse und ihre Geschwister im Badezimmer im Obergeschoss des Hauses. Bereits im Sommer desselben Jahres floh die Familie zuerst nach Berlin zu Ilses Großeltern und dann nach Frankreich.
Nachdem Ilses Vater bereits 1936 in die Sowjetunion gereist war, um dort eine Anstellung als Arzt zu suchen, entschied sich die Mutter schließlich dafür, ihm mit den Töchtern zu folgen. Jedoch gestaltete die Reise sich als herausfordernd, und auch in der Sowjetunion hatten sie Schwierigkeiten, z. B. bei der Essensbeschaffung und durch häufige Krankheiten. Als sie nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22.06.1941 auch in Dnipropetrowsk, wo sie sich inzwischen niedergelassen hatten, nicht mehr sicher waren, setzten sie ihre Flucht ohne ihren Vater fort. Dr. John Katzenstein durfte als Arzt die Stadt nicht verlassen.
Dies brachte jedoch zahlreiche Komplikationen mit sich. Sie mussten trotz zahlreicher Bombenangriffe anderthalb Tage lang mit dem Zug fahren, um schließlich in einer Bauernwohnung im Nordkaukasus Unterschlupf und Versorgung zu finden. Im November 1941 wurden sie deportiert und bei eisigen Temperaturen von etwa minus 40 Grad auf die Straße gesetzt. Nach einer langen und sehr kalten Reise mit zahlreichen Besuchen in verschiedenen Unterkünften und provisorischen Schlafplätzen wurde die Familie in Sherbakty (Kasachstan) erneut vom Vater, der sie zwischenzeitlich wiedergefunden hatte, getrennt. Er wurde im November 1942 als angeblicher deutscher Spion denunziert und inhaftiert.
Nachdem Ilses Mutter 1944 an Hungertyphus verstorben war, zog die älteste Schwester zu ihr und zusammen forderten sie russische Pässe an, wodurch sie sich in der Sowjetunion frei bewegen konnten. Ilse machte eine Ausbildung als Lehrerin. Acht Jahre nach seiner Denunzierung schrieben die drei Geschwister gemeinsam einen Brief und schickten Medizin an ihren Vater. Als sie erfuhren, dass er frei sei und Ilses Schwester Lore ihn nach einer anstrengenden Suche in einem sibirischen Dorf am Fluss Jenissej wiederfand, nahmen Ilse und ihre andere Schwester ihn warmherzig auf. Ilse kündigte sogar ihre Anstellung, um nach Tinskaya zu ziehen und sich um ihn zu kümmern. Eine neue Arbeitsstelle fand sie jedoch nicht. Sie entschied sich dazu, ein Fernstudium zu beginnen. 1960 litt sie bereits an einer Kopfschmerzerkrankung, die jedoch nicht ernst genommen wurde.
Mit den Entschädigungen für Ilses Vater und ihre zwei Schwestern (für Ilse selbst und die verstorbene Mutter gab es kein Geld) sowie dem Erbe des Großvaters erwarb die Familie 1961 ein Haus in Rostow am Don. Dort fand Ilse endlich Arbeit. 1963 starb der Vater infolge von drei Schlaganfällen an einer Lungenembolie. Ilse Katzenstein erlag 1971, nur acht Jahre nach dem Tod des geliebten Vaters, mit nur 43 Jahren einem Hirntumor.
Quellen: StadtA KS, S17, Nr. 34.; StadtA KS, S17, Nr. 45.; StadtA KS, S17, Nr. 25.; StadtA KS, S1, Nr. 3417.
Hannah Webel, Asli Ogur und Shirin Fraij
(Überarbeitung von Daaje van Ophuysen und Christine Jakubowsky Januar 2024)
Berichte über die Verlegung am 29.6.2024 finden Sie hier:
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