Josef Verständig, geboren 1877, ist 1911 nach Kassel gekommen. Er stammte aus Sieniawa (damals Österreich, heute Polen). Er war verheiratet mit Serka Verständig. Die Eheleute hatten 4 Söhne. Sie sind um 1902 nach Deutschland gekommen und haben danach in Halberstadt und Plauen gewohnt, denn dort sind 3 ihrer Söhne geboren. Kurz nach der Ankunft in Kassel ist die 35 Jahre alte Ehefrau gestorben und der gleichaltrige Vater war mit den Söhnen allein.
Die vier Kinder Markus JG 1901 - Max Mendel JG 1903 - Hermann JG 1906 - Siegmund JG 1907 sind im jüdischen Waisenhaus in der Gießbergstraße aufgewachsen.
1915 wurde Josef Verständig zum Militär eingezogen und kam nach der Entlassung 1918 wieder nach Kassel.
Um 1920 heiratete er in 2. Ehe Hedwig Wachshändler, geboren am 4. April 1884 in Lublin (damals Russland). Das Ehepaar wohnte zunächst Druselgasse 8 und ab 1929 Kasernenstraße 5.
Zur beruflichen Tätigkeit von Josef Verständig äußert sich Sohn Hermann schriftlich im Entschädigungsverfahren:
„Ich, Hermann Verständig, bin nicht im Elternhaus aufgewachsen. Ich wurde mit meinen Brüdern im israelitischen Waisenhaus in Kassel erzogen, kam im Jahre 1920 nach Düsseldorf in die Lehre und habe meinen Vater nur hin und wieder besucht. . . . Mir ist bekannt, dass mein Vater in Kassel, Druselgasse 8 einen Laden hatte, in dem er ein Manufakturwaren-geschäft betrieb. Er verkaufte Stoffe an Einzelhandelskunden, hauptsächlich Kleiderstoffe. Im Geschäft hatte mein Vater einen Angestellten. Dieser Angestellte war mein Bruder Markus Verständig. Markus reiste auch fuer meinen Vater in der Umgebung von Kassel und verkaufte Textilwaren. In demselben Haus hatte mein Vater eine Drei- oder Vier-Zimmer-Wohnung. Ich selbst bin ein Kind aus erster Ehe meines Vaters. . . . .“
In der Druselgasse sind am 30.8.1922 Sohn Leo und am 16.8.1924 Tochter Erna zur Welt gekommen. Die Kinder sind dann zusammen mit den Eltern in den 3. Stock der Kasernenstraße 5 umgezogen. Die Kasernenstraße verlief parallel zur Unteren Königsstraße vom Martinsplatz zum Pferdemarkt. Sie ist, wie das gesamte sehr enge Wohnquartier im Weltkrieg II untergegangen und beim Wiederaufbau weggefallen. Zeitzeugin Helga Klöker hat als Kind mit ihren Eltern auf derselben Etage gewohnt und den Anstoß zu den Stolpersteinen gegeben.
Ende Oktober 1938 wiesen die deutschen Behörden rund 17.000 Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Reichsgebiet aus. In einer Nacht- und Nebelaktion, die ihnen keine Zeit ließ, Hab und Gut einzupacken. Nur eine Tasche durften sie vollstopfen und zehn Reichsmark mitnehmen. Dann ging es zu Sammelstellen – und mit dem Zug an die polnische Grenze. Alle Betroffenen hatte eine Gemeinsamkeit: Sie lebten zwar zumeist seit vielen Jahren in Deutschland oder waren hier sogar geboren – aber sie waren nicht im Besitz der deutschen Staatangehörigkeit. Sie waren Polen, und das wurde ihnen zum Verhängnis. Die „Polenaktion“ war die erste Massenausweisung von Juden und ein Vorspiel zu den Deportationen in die Vernichtungslager.
Zu den Ausgewiesenen gehörte auch eine Familie Grynszpan aus Hannover. Der in Paris lebende Sohn Herschel schoss am 7. November 1939 – aus Empörung über die unhaltbaren Zustände, denen seine Leute ausgesetzt waren – auf den deutschen Botschaftssekretär. Sein Tod war für die Nazis willkommener Anlass um die November-Pogrome (Reichskristallnacht) in Szene zu setzen.
Auch Josef Verständig musste Kassel verlassen und wurde in Bentschen (Zbąszyń) in einem Internierungslager auf der polnischen Seite festgehalten. Erst im Sommer 1939 konnte er nach Kassel zurückkehren.
Hedwig Verständig gelang es in dieser Zeit, ihre beiden Kinder in den Niederlanden in Sicherheit zu bringen. Ende Juni 1939 konnten Erna und Leo Kassel verlassen. In den Niederlanden wurden die beiden getrennt untergebracht. Leo wohnte bis März 1940 in Amsterdam in der New Krerkstraat 119 bei der Familie Still. Am 20. März wurde er in das Flüchtlingslager Westerbork gebracht. Das spätere polizeiliche Durchgangslager Westerbork war ab Oktober 1939 als Flüchtlingslager für aus Deutschland und Österreich geflohene verfolgte Menschen errichtet worden.
Erna lebte anfangs bei verschiedenen Familien in Bloemendaal und Amsterdam. Im Juli 1940 wurde sie in das Mädchenwaisenhaus in der Rapenburgerstraat 171 in Amsterdam eingewiesen. Das Waisenhaus wurde im Februar 1943 geschlossen, Erna wohnte noch für eine kurze Zeit in der Retiefstraat 18, wurde aber bereits im Frühjahr in das polizeiliche Durchgangslager Westerbork eingewiesen. Ihren Bruder Leo konnte sie hier nicht mehr wiedersehen. Er war schon am 26. August 1942 in das deutsche Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort ermordet worden.
Die Eltern Josef und Hedwig sind nach Josefs Freilassung aus polnischer Internierung nach Belgien emigriert. Bis Mitte 1942 lebten sie dort, zum Teil im Verborgenen. Im Juli wurden sie verhaftet und im SS-Sammellager Mechelen eingesperrt. Am 8.9.1942 ist der Deportationszug in Richtung Auschwitz abgefahren. In diesem Transport befanden sich insgesamt 1000 Menschen. Er erreichte das Lager am 10. September 1942. Aufgrund ihres Alters ist davon auszugehen, dass sie direkt nach ihrer Ankunft in der Gaskammer von Auschwitz ermordet wurden. Insgesamt hat es 31 Transporte mit 17.000 Menschen von Mechelen/Belgien in Vernichtungslager gegeben.
Im Entschädigungsverfahren ist den Erben für die Inhaftierung (Freiheitsentzug vor Ermordung) von Hedwig und Josef in Mechelen/Belgien jeweils 450 DM zu erkannt worden. Jeder volle Monat Haft wurde mit 150 DM bewertet. Angefangene Monate blieben unberücksichtigt.
Von den Söhnen aus 1. Ehe sind Markus Verständig mit Ehefrau Herta und Tochter Ruth im August 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet worden. Sie haben bis 1939 in Witzenhausen gelebt. Siegmund Verständig ist 1943 von Drancy aus nach Majdanek in den Tod geschickt worden. Hermann Verständig ist in die USA geflohen und hat in den 1960-er Jahren das Entschädigungsverfahren mit betrieben. Max Mendel Verständig ist 1944 nach Auschwitz deportiert worden und später in Buchenwald zu Tode gekommen (siehe die eigene Biografie).
Quellen:
Adressbücher Kassel
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Entschädigungsakte HHStAW 518, 71747
Kleinert und Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels, Hg. Stadt Kassel, 1986
Uni-Bibliothek Kassel, 35 HF B 767
http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
http://www.sobibor.de/de/erna-verstaendig/
https://kazernedossin.memorial/herdenken/in-memoriam/?pdb_id=27375
Jochen Boczkowski, Juni 2019