Die Familie Oppenheim war spätestens 1867 von Reichensachsen nach Kassel gekommen. Im Kasseler Adressbuch für dieses Jahr gibt es erstmals den Eintrag von Victor Oppenheim (1807-1880) „Fabrikant, Roßhaarspinnerei, Möbelgurt- und Bindfadenfabrik am Holländischen Thor 31 ¼.“ Das schon 1833 gegründete Unternehmen sollte noch bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an der Holländischen Straße/Westring bestehen.
In der Familie war es Tradition, dass jeweils die ältesten Söhne in die Geschäftsleitung eintraten. Victor Oppenheim trug als ältester Sohn von Nathan Oppenheim (1845-1930) einer Familientradition entsprechend - wie sein 1885 geborener Vetter Victor Carl - den gleichen Vornamen wie sein Großvater. Er wurde am 15. Juli 1880 geboren und heiratete (zwischen 1918 und 1922) die am 13. Oktober 1888 in Gelsenkirchen geborene Julie Sauerbier. Die Ehe blieb kinderlos. 1922 kauften Sie das Haus in der Herkulesstraße 6.
Oben links: der Briefkopf der Rosshaarspinnerei aus dem Jahr 1906 - oben rechts: Blick vom Westring auf die Spinnerei, 1920er Jahre, Murhard'sche Bibliothek
Unten links: Neumann-Stadtplan 1878 - Unten rechts: Stadtplan 1910 (Dank an Alexander Link)
Seit den 1920er Jahren waren die Vettern Victor und Victor Carl die beiden alleinigen Inhaber der seit Jahrzehnten gut florierenden Rosshaarspinnerei, die ihren Eigentümerfamilien einen beachtlichen Wohlstand brachte. Das Jahr 1933 führte dann mit dem Beginn der NS-Herrschaft zu erheblichen Einschnitten. Victor sah offenbar für sich und seine Frau in Deutschland keine Perspektive mehr, verkaufte seinen Firmenanteil an Victor Carl und schied aus der Firmenleitung aus, während sein Vetter anders auf die Bedrohung reagierte. In seiner Studie über die Verdrängung der Juden aus der Kasseler Wirtschaft stellt Horst Kottke fest: „Mit einer weitsichtigen Strategie reagierte Victor Carl Oppenheim (Inhaber der Rosshaarspinnerei V. Oppenheim Söhne) auf die Machtübernahme der Nationalsozialisten. Er hatte mit Wirkung vom 30. Juni 1934 eine stille Beteiligung an der Rosshaarspinnerei Kurt Kaufmann, Basel, erworben. Dies erleichterte ihm 1939 den Neuanfang in der Emigration in der Schweiz.“ (Kottke, S. 235)
Julie Oppenheim betonte in der Nachkriegszeit, dass der Entschluss, Deutschland zu verlassen, auch geprägt war durch das Erlebnis der frühen Verfolgung ihres Schwagers Julius Oppenheim. An diese erinnerte sich dessen Nichte Ilse in den 1980er Jahren: „Rings um uns war Haß und Feindschaft, kein Mensch akzeptierte uns mehr; wir waren Dreck. Vaters Bruder, Onkel Julius, wurde geschändet. Man rasierte ihm die Haare vom Kopf und misshandelte ihn. Er musste mit einem Schild auf die Straße: 'Ich bin ein Schwein. Ich habe mich mit einer Arierin abgegeben'.“ (Brief an den Verf.) Das Ehepaar Julie und Victor Oppenheim begann 1933 Reisen, um sich nach den Möglichkeiten des Aufbaus einer neuen Existenz im Ausland umzusehen. Diese Reisen führten nach Frankreich, Palästina, London und Belgien. Das war den beiden finanziell möglich, weil Victor aufgrund der Exportgeschäfte des Unternehmens über Devisenguthaben in verschiedenen Ländern verfügte.
Der Zeitpunkt ihrer endgültigen Auswanderung ist nicht genau zu bestimmen. Nach den heutigen Angaben im Kasseler Stadtarchiv wanderte das Ehepaar bereits am 15. Juli 1934 nach Belgien aus, während Victor Oppenheim bereits gegenüber NS-Behörden und seine Frau Julie im Entschädigungsverfahren betonten, dass sie erst viel später ihren Hausstand in Kassel aufgegeben und endgültig erst im Juli 1936 Deutschland verlassen hätten, um mit dem eigentlichen Auswanderungsziel USA zunächst nach Belgien zu gehen. In diesem Jahr hatten sie Grundstück und Haus mit der Wohnungseinrichtung in der Herkulesstraße 6 an das Ehepaar Wiese verkauft, wobei der Erlös an das Finanzamt ging. Von Le Havre gelangten Julie und Victor Oppenheim schließlich im September 1937 in die USA.
Das Finanzamt Kassel überzog offenbar Victor Oppenheim bereits seit Januar 1934 mit der Forderung nach Zahlung einer Reichsfluchtsteuer, da man von der Absicht der Auswanderung ausging. 1936 forderte es von ihm in einem Schreiben an seine Adresse in Brüssel erneut die bereits 1934 festgesetzte Summe von 76.000 RM und teilte ihm mit, dass gegen ihn ein Strafverfahren eingeleitet werde und ein Steuersteckbrief erlassen worden sei. „Werden Sie nach Bekanntgabe Ihres Namens im Reichsanzeiger im Inland angetroffen, so ist jeder Beamte des Polizei und Sicherheitsdienstes, des Steuerfahndungsdienstes und des Zollfahndungsdienstes sowie jeder andere Beamte der Reichsfinanzverwaltung, der zum Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft bestellt ist, verpflichtet, Sie vorläufig festzunehmen.“ Das Verfahren führte offenkundig zur Verhängung einer Devisenstrafe von 80.000 RM, wie aus einem Dokument aus der Nachkriegszeit hervorgeht. Als das Ehepaar auswanderte, hatte sich der Staat weitgehend sein Vermögen angeeignet.
Julie und Victor Oppenheim lebten in Los Angeles, wo Victor am 12. Juli 43 in Hollywood starb. Als Alleinerbin stellte Julie nach dem Krieg Entschädigungsanträge.
Victor Carl Oppenheim verkaufte die Rosshaarspinnerei im Vergleich mit anderen jüdischen Unternehmen ziemlich spät und zwar im März 1939 an den Auslandsdeutschen Heinrich Rodegra aus Riga. Zu dieser Zeit hatte er den Namen Awigdor angenommen. Im gleichen Jahr emigrierte er nach Basel in der Schweiz. Seine Tochter Gertrud emigrierte zunächst nach London und später nach Palästina. Als Raya Livné lebte sie in Israel, nachdem sie zwischenzeitlich in Deutschland studiert hatte.
Victors Bruder Julius war – wie oben erwähnt – bereits 1933 Opfer nationalsozialistischen Terrors geworden und wurde am 9.12.1941 nach Riga deportiert, sein Todesdatum ist nicht bekannt.
Der Bruder Albert und dessen Ehefrau Meta teilten das gleiche Schicksal. Während Albert in Riga starb, wurde Meta von Riga in das KZ Stutthof deportiert, wo sie am 1.4.1944 ermordet wurde. Ihre Töchter Ilse, Ruth und Alice konnten nach Palästina gelangen.
Victors Vetter, der Rechtsanwalt Dr. Leopold Oppenheim, war der letzte Vorsitzende im Provinzial-Vorsteheramt der israelitischen Gemeinde Kassel. Er blieb noch bis 1939 in Kassel und emigrierte dann nach London. Er führte dann zusätzlich den Namen Awigdor.
Wolfgang Matthäus
Mai 2022
Quellen und Literatur
HHStAW
Best. 518 68922 und 68891 (Entschädigungsakten Oppenheim | Best. 519/3 37198 (Devisenakte Rosshaarspinnerei)
Stadtarchiv Kassel
S17 Nr. 30 (Familie Oppenheim)
Horst Kottke, Die endgültige Verdrängung der Juden aus der Kasseler Wirtschaft im Jahre 1938, in: Wilhelm Frenz/Jörg Kammler/Dietfrid Krause-Vilmar, Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Bd.2, Fuldabrück 1987, S. 223ff.
Dietrich Heither/Wolfgang Matthäus/Bern Pieper, Als jüdische Schülerin entlassen, Kassel 2. Aufl. 1987