Julius Jonas und Bella Dalberg

Friedrich-Ebert-Straße 3 (vor dem Gloria-Kino - früher Hohenzollernstraße 5)

Julius und Bella Dalberg wohnten seit 1911 im Haus Hohenzollernstraße 5. Dieses Haus gibt es nicht mehr, es ist 1943 im Krieg zerstört worden. Beim Neuaufbau nach dem 2. Weltkrieg wurde der Straßenverlauf der nach Friedrich Ebert umbenannten Straße verändert. Die Vorderfront des ursprünglichen Hauses befand sich etwa dort, wo heute die Straßenbahnhaltestelle Ständeplatz ist. Die Stolpersteine wurden deshalb vor dem Gloria-Kino verlegt.

Der Beginn der Hohenzollernstraße mit dem Eckhaus Nr. 1 am linken Bildrand (Foto Eberth links, Stadtarchiv Kassel 0.500.627). Die Häuser Hohenzollernstraße 1 bis 5 (Stadtmuseum Kassel)

Julius Dalberg wurde am 21. Mai 1882 in Essentho, einer kleinen westfälischen Gemeinde in der Nähe von Marsberg, geboren und kam als Kind mit seinen Eltern um 1890 nach Kassel. Sie schickten ihn zur Vervollständigung seiner Schulbildung nach Hersfeld. Von 1900 bis 1904 war er Schüler des Gymnasiums „Alte Klosterschule“ und bestand dort im März 1904 die Abiturprüfung. Hersfeld war ab 1866 eine begehrte Adresse für jüdische Familien. Eine Reihe auswärtiger jüdischer Schüler nahm bei Hersfelder Familien Quartier. Auch der Hersfelder jüdische Lehrer Moses Nussbaum gewährte auswärtigen Schülern Kost und Logis. Von 1809 bis 1937 waren auf dieser Schule 260 jüdische Schüler eingeschrieben.

Für Ludwig Horwitz war es für den "Werdegang D.s vom jüdischen Standpunkt aus" entscheidend, „wie er frühzeitig in das Haus des sel. Lehrers Nußbaum nach Hersfeld kam, dort in die Quellen jüdischen Wissens in Mischna, Talmud, Midrasch und nicht minder in die biblischen Bücher eingeführt wurde. All dieses vielseitige Wissen, wie auch die humanistische Bildung im Gymnasiums waren bei ihm nichts Erlerntes, sondern Gelebtes." Mt der Tochter Bella des Lehrers Moses Nussbaum, die am 28. Januar 1883 in Hersfeld geboren wurde, lernte Julius Dalberg in Hersfeld auch seine zukünftige Frau kennen.

 

Nach dem Jurastudium erhielt er im Jahr 1908 die Zulassung zum Rechtsanwalt, nach 15-jähriger Tätigkeit 1923 die am Oberlandesgericht. Ein Jahr später erfolgte die Bestellung zum Notar.

 

Nach der Eheschließung 1911 kam das Ehepaar im gleichen Jahr nach Kassel und wohnte in der Hohenzollerstraße 5. Die Rechtsanwaltspraxis befand sich wenige Häuser entfernt in der Hohenzollernstraße 23.

 

Julius Dalberg war neben seiner beruflichen Tätigkeit, vor allem auch als "Anwalt vieler Rechtsuchender aus kleinen und kleinsten Kreisen, meist oft ohne Lohn" (Horwitz), überaus vielfältig und intensiv ehrenamtlich engagiert. "Er war der dynamischste und einer der engagiertesten Juden in der Kasseler Gemeinde" - so charakterisiert ihn Wolfgang Prinz (Prinz 1985).

Für die Jüdische Volkspartei in das Kollegium der Gemeindeältesten gewählt, war der thoratreue Zionist der Kritik der liberalen Mehrheit ausgesetzt. Dalberg arbeitete unermüdlich nach innen und außen für die Belange der Gemeinde, vor allem auf den Gebieten der Schul- und Wohlfahrtseinrichtungen, des Sozialen und der Kultur. Er war darüber hinaus als Redakteur der 1924 von Zionisten gegründeten JWZ, der „Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck“ (vgl. Krause-Vilmar 2013, S. 176ff.), tätig, die  „jüdisch-neutral“ konzipiert war, alle Aspekte des Gemeindelebens beleuchtete, aber auch hinreichend Raum bot, um für zionistische Ideen zu werben. Für die JWZ schrieb Dalberg zahlreiche biografische Artikel, im „Wochenabschnitt“ behandelte er regelmäßig religiöse Themen, die er mit den Erfordernissen der Zeit verband. Der besonders auch historisch interessierte Anwalt verfasste 1931 für den ersten Band der Geschichte der Kasseler Gemeinde eine Abhandlung zur „Volkskunde der Hessen-Kasseler Juden“.

Zu seinen besonderen Initiativen und Verdiensten gehörte es, dass im Kasseler Landesmuseum eine jüdische Abteilung eingerichtet und 1927 eröffnet werden konnte (vgl. Hoppe, S. 213ff.). Bereits als Gymnasiast hatte er auf Wanderungen in Ortschaften mit jüdischen Gemeinden sakrale Objekte erworben und seine Wohnung soll einem Museum geglichen haben. Dalbergs umfangreiche Judaica-Sammlung bildete dann den Grundstock der Exponate im Landesmuseum, wo sie der Allgemeinheit zugänglich war.

Schon vor 1933 war Julius Dalberg von den Nazis geschmäht und beleidigt worden. 1928 gab es vor Gericht in einem Zivilprozess einen Zusammenstoß mit dem glühenden Antisemiten Oswald Freisler, dem Bruder des berüchtigten Roland Freisler. Beide Brüder Freisler waren in Kassel als Anwälte tätig. Oswald Freisler war zu diesem Zeitpunkt vom Ehrengericht der Anwälte bereits einmal verurteilt worden, „weil er durch Beleidigung versucht hatte, den gegnerischen jüdischen Kollegen in den Augen des Gerichts herabzusetzen“. In dem juristischen Streit prallten nun erneut der bewusste Jude Dalberg und der Antisemit Freisler aufeinander. Beide reizten sich verbal, wobei Dalberg besonnen blieb, während sein Kontrahent ihn nach dem Ende der Verhandlung auf dem Flur vor dem Sitzungssaal zweimal tätlich angriff. Ein von Wolfgang Prinz genau beschriebenes Ehrengerichtsverfahren verurteilte beide zu einer Geldstrafe und erteilte ihnen einen Verweis. Von dem beantragten Ausschluss Freislers aus der Anwaltskammer, das ihn und auch die örtliche NSDAP schwer getroffen hätte, sah das Ehrengericht ab, „da er sich in einem Zustand höchster Erregung befand“ (Prinz 2, S. 166f.).

Telegramm des Bezirks Hessen der SPD an den Vizekanzler (HStAM Best. 165 3982 Bd. 10/11)
Telegramm des Bezirks Hessen der SPD an den Vizekanzler (HStAM Best. 165 3982 Bd. 10/11)

Nicht zuletzt deshalb zielte der Terror der SA im Frühjahr 1933 auch auf Julius Dalberg. Am 24. März wurde er wie sein jüdischer Anwaltskollege Max Plaut von SA-Leuten in den Kasseler Bürgersälen so schwer misshandelt, dass die Ärzte einige Tage befürchteten, ein Bein müsste amputiert werden. Seine berufliche Existenz als Rechtsanwalt verlor er bereits wenige Monate später, als er am 11.7.1933 aus der Anwaltsliste gestrichen wurde.

Am 1. September 1933 wurde Julius Dalberg verhaftet und ins Konzentrationslager Breitenau eingeliefert. Zwei Wochen später wurde er freigelassen und floh kurz danach, am 17.11.1933, zusammen mit seiner Frau Bella nach Amsterdam. Dort gründete er das jüdisch-wissenschaftliche Antiquariat „Pampiere Wereld“, das dem Ehepaar das sicherlich notdürftige Überleben im Exil ermöglichen sollte. Nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Holland im Mai 1940 wurde das Antiquariat geschlossen. In Amsterdam waren Bella und Julius Dalberg zwischen dem 8. Januar 1934 und dem 1. Juni 1943 unter der Adresse, Noorder Amstellaan 31 A III in Amsterdam, gemeldet.

Nach ihrer Verhaftung bei einer Razzia wurden beide am 1. Juni 1943 in das Polizeiliche Durchgangslager Westerbork gebracht und mit dem 19. Transport, der das Lager Westerbork in Richtung des deutschen Vernichtungslagers Sobibor in Polen verließ, am 20. Juli 1943 deportiert. In diesem Transport befanden sich weitere 2007 Menschen, keiner dieser Menschen überlebte. In Sobibor wurden fast alle dorthin Deportierten - so mit großer Wahrscheinlichkeit auch Bella und Julius Dalberg - innerhalb weniger Stunden nach der Ankunft ermordet.

 

Deportation aus Westerbork
Deportation aus Westerbork
Gedenkallee Sobibor - Gedenkstein für das Ehepaar Dalberg aus Kasselhttp://www.stichtingsobibor.nl/gedenklaan-rechterkant/
Gedenkallee Sobibor - Gedenkstein für das Ehepaar Dalberg aus Kasselhttp://www.stichtingsobibor.nl/gedenklaan-rechterkant/

Sobibór liegt heute an der Ostgrenze Polens. Neuere Untersuchungen nennen eine Opferzahl von etwa 170.000 jüdischen Menschen, die innerhalb eines Zeitraums von anderthalb Jahren durch Gas ermordet wurden. Bei einem Aufstand jüdischer Arbeitshäftlinge konnten am 14. Oktober 1943 schließlich knapp 300 Häftlinge aus Sobibór fliehen.

 

Patinnen für die Stolpersteine von Bella und Julius Dalberg sind Rosa Wackernah und Marie Siewirski, Schülerinnen der Offenen Schule Waldau, und Margrit Stiefel aus Habichtswald.

 

 

 

Quellen und Literatur

 

Julius Dalberg: Volkskunde der Hessen-Kasseler Juden, in: Geschichte der Jüdischen Gemeinde Kassel unter Berücksichtigung der Hessen-Kasseler Gesamtjudenheit, hg. von der Israelitischen Gemeinde Kassel. Kassel 1931, Bd. 1, S. 109-168

Jens Hoppe, Jüdische Geschichte und Kultur in Museen: Zur nichtjüdischen Museologie des Jüdischen in Deutschland, Münster/NewYork/München/Berlin 2002, S. 213ff.

(Ludwig) Horwitz, Zum 50. Geburtstag des Rechtsanwalts und Notars J. Dalberg, in: Jüdische Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck, 27.5.1932

Dietfrid Krause-Vilmar, Juden in Kassel, in: Kassel in der Moderne, hg. von Jens Flemming und Dietfrid Krause-Vilmar, Marburg 2013

ders., Artikel "Julius Dalberg", Manuskript für das noch nicht erschienene "Kleine Kasseler Literaturlexikon"

Wolfgang Prinz, Jüdische Bürger aus Kassel vor 1933, in: Helmut Burmeister und Michael Dorhs (Hg.), Fremde im eigenen Land, Hofgeismar 1985, S. 46ff.

Wolfgang Prinz, Die Judenverfolgung in Kassel, in: Wilhelm Frenz / Jörg Kammler / Dietfrid Krause-Vilmar (Hg.), Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Bd. 2, Fuldabrück 1987 (Prinz 2)

Martina Schröder-Teppe, Wenn Unrecht zu Recht wird … Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte im Bezirk der Rechtsanwaltskammer Kassel nach 1933, hg. von der Rechtsanwaltskammer Kassel, 2006, S.48f.

 

http://www.sobibor.de/de/familie-dalberg/

www.hassia-judaica.de/Orte/Hersfeld/Ehem_Schueler_der_Alten_Klosterschule/Holocaustopfer.pdf

 

 

Jochen Boczkowski / Wolfgang Matthäus

 

letzte Überarbeitung: Juli 2016

 

 

 

 

 

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