Kurt-Schumacher-Straße 20
(früher in etwa dort Hohentorstraße 22 )
Am 17.09.1942 stirbt im KZ Oranienburg der Häftling mit der Nummer 41084, er ist einer von 16577 Gefangenen des Lagers, der das Jahr 1942 nicht überlebt. Das nationalsozialistische Regime ließ ihn ein Jahr zuvor als „Schutzhäftling“ zunächst in das Kasseler Polizeigefängnis bringen, es folgte Arbeitserziehungslager Breitenau und schließlich das KZ Oranienburg, in dem er sein Leben – wenn man der offiziellen Meldung Glauben schenken möchte – aufgrund einer Ruhr-Erkrankung verlor. Die Nationalsozialisten machten ihn zu einer Nummer, zu einer namenlosen Zahl im Getriebe der systematischen Verfolgung, sein Name war Kaspar Brede.
Kaspar Brede wird am 05.12.1879 in Niedervellmar bei Kassel geboren, er ist eins von neun Kindern des Ehepaares Nikolaus Bernhart, von Beruf Ackermann, und Katharina Elisabeth Brede, geb. Müller. Über seine Kindheit und frühe Jugend ist leider nichts bekannt, aus den archivalischen Quellen geht lediglich eine zweijährige Militärdienstzeit von 1899 bis 1901 hervor. Ein Jahr nach dem Verlassen des Militärs heiratet Brede seine Frau Helene, eine aus Hamm stammende geborene Schmidt. Die erste gemeinsame Wohnung bezieht das Paar in der Karlstraße 17 in Kassel, wo Kaspar Brede erste Erfahrungen mit dem Umfeld seines späteren Berufs als Gastwirt sammelt, da er beim Brauereibesitzer Hölldampf als Küfer zu arbeiten beginnt. Bereits nach wenigen Wochen erfolgte ein Umzug in die Zeughausstraße 10. Im Januar 1903 wir das erste der drei gemeinsamen Kinder von Kaspar und Helene Brede geboren, Karl Brede, der nach dem Krieg den „Fragebogen für Angehörige bzw. Hinterbliebene ehemaliger politischer Häftlinge“ für seinen Vater ausfüllen und der einzige Überlebende der Familie Brede sein wird. Wenige Wochen nach der Geburt von Sohn Karl zieht die Familie für ein Jahr in den Kasseler Stadtteil Rothenditmold, von wo aus die Familie dann im Jahr 1904 in den Westring 59 umzieht. Nach einem weiteren Umzug nach Niedervellmar, wo die anderen beiden Kinder, Sohn Heinrich (*03.12.1905) und Tochter Elisabeth (*28.10.1917) geboren werden, verbringt die Familie Brede die folgenden Jahre unter verschiedenen Adressen in Nieder- und Obervellmar, bevor sie erneut im Juni 1927 nach Kassel in den Westring 59 ziehen.
Ende 1929 beantragt Kaspar Brede bei der Stadt Kassel die Ausstellung einer Schanklizenz, parallel dazu erfolgt im Januar 1930 ein weiterer Umzug in das Haus Hohentorstraße 22, in dessen Erdgeschoss sich die Hohentorschänke befand. Als Vorerfahrungen gibt Brede hier an, bereits in früheren Jahren eine Gastwirtschaft in Obervellmar sowie im Kasseler Westring 59 betrieben zu haben. Anfang 1930 wird die beantragte Schanklizenz erteilt, sodass Brede die Hohentorschänke betreiben kann.
Über die ersten Jahre der Hohentorschänke nach der Übernahme durch Brede ist nichts weiter bekannt, allerdings wird er im Juli 1938 anonym denunziert, was den Beginn der Repressalien gegenüber Brede markiert, die schließlich zu seiner Verhaftung und zu seiner Überstellung ins KZ Sachsenhausen führen werden. Als – vermutlich fiktive – Absender des Schreibens werden „die Einwohner der unteren Hohentorstraße“ genannt, die sich direkt beim Kasseler Polizeipräsidenten, SS-Brigadeführer Max Henze, beschweren, dass Brede Alkohol an „Gesinder“ ausschenke und dies „bis zur Besinnungslosigkeit“, was zu Schlägereien und Lärmbelästigung führen würde. Um den oder die Denunzianten aus der Anonymität zu holen, werden auf polizeiliche Anordnung hin Schriftproben von Bewohnern der Hohentorstraße genommen, die jedoch keine Identifizierung des Beschwerdeführer ermöglichten. Jedoch seien die Zustände nicht (mehr) so „schlimm wie vor Jahren“ und auch das Freudenhaus in der Hohentorstraße 35 trüge an den bemängelten Zuständen keine Schuld.
Diese anonym vorgebrachten Anschuldigungen lenkten den Fokus der Polizei allerdings dauerhaft auf Kaspar Brede, sodass er – neben vier weiteren Gastwirten der Kasseler Altstadt – sich unter anderem einer Überprüfung hinsichtlich der Angemessenheit seiner Getränkepreise unterziehen musste, die im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Reichskriegertages 1939 in Kassel durchgeführt wurde. Als Ergebnis wurden die Getränkepreise in der Hohentorschänke als zu hoch angesehen. Eine weitere Quelle, die Aufschluss über den Fortgang der Denunziationen gegenüber Brede geben kann, ist eine Abschrift eines Schreibens an den Polizeipräsidenten Dr. Herbert Böttcher vom Mai 1941, in dem – ebenfalls anonym – die Vorwürfe erhoben werden, dass die Hohentorschänke „ein Sammelpunkt der Zuhälter, Dirnen und anderer asozialer Elemente“ sei. Auch soll Brede im Zuge einer Inspizierung seiner Gaststätte renitent gegenüber einer Militärstreife geworden sein. Ein weitere Vorwurf dabei ist, dass Brede „den Aufenthalt von Soldaten in jeder Weise begünstigt“ haben soll, obwohl dies eindeutig gegen eine Vorschrift der Kreisleitung der NSDAP aus dem Jahr 1937 verstoße, gemäß der allen Parteiangehörigen sowie „Angehörigen einer Gliederung in Uniform und Zivil“ das Betreten der Hohentorschänke in Uniform ausdrücklich verboten sei. Initiiert durch Bredes Renitenz sollen demnach „anwesende Soldaten zum Ungehorsam ermuntert und aufgefordert“ worden sein. Zentraler Satz innerhalb dieses Schreibens ist jedoch die Feststellung, dass durch „seine wiederholt öffentlich gemachten Äußerungen, ihm könne niemand etwas befehlen“ Beweis erbracht wäre für „seine gegnerische Haltung gegenüber der Wehrmacht und auch gegenüber jeder Ordnung“. Zitiert wird in diesem Zusammenhang auch die Äußerung Bredes „Warte nur, er kommt auch wieder einmal eine andere Zeit“.
Anfang Mai 1941 nimmt die Staatspolizei Kaspar Brede samt seiner 57 anwesenden Gäste zur Feststellung der Personalien sowie weiterer Überprüfungen vorübergehend fest, wobei festgestellt wird, dass sich unter den Gästen der Hohentorschänke eine „grosse[sic!] Anzahl kriminell erheblich vorbelasteter Elemente“ befunden haben soll. Brede wird unter Anwendung von Gewalt in das Polizeigefängnis überstellt, von wo aus er Ende Mai als Schutzhäftling direkt in das Arbeitserziehungslager Breitenau verbracht wird. Bereits während seiner Haftzeit im Polizeigefängnis wird ihm mitgeteilt, dass die Hohentorschänke mit sofortiger Wirkung und ohne Anwendbarkeit von Rechtsmitteln geschlossen wird, womit die wirtschaftliche Grundlage der fünfköpfigen Familie Brede schlagartig wegbricht. Kaspar Brede versucht aus der Haft, die Gaststätte für seine Familie zu retten, indem er – nach der offiziellen Lesart freiwillig – auf die Schanklizenz verzichtet und beabsichtigt, die Hohentorschänke an seinen Sohn Heinrich zu verpachten, wogegen allerdings seitens des Leiters der Gestapostelle, SS-Sturmbannführer Rudolf Korndörfer, „staatspolizeiliche Bedenken“ erhoben werden, was die Ablehnung des Ansinnens Bredes zur Folge hat.
Dies führte zwangsläufig zu einer dramatischen Verschlechterung v. a. der finanziellen Lage der Familie, sodass Bredes Frau Helene sich bereits am 05.05.1941 schriftlich an die Leitung des AEL Breitenau wendet und darum bittet, ihren Mann in „sehr wichtige[n] Geldangelegenheiten“ sprechen zu dürfen, was mit einem Verweis auf die Zuständigkeit der Gestapostelle Kassel negativ beschieden wird. Weiterer Schriftverkehr zwischen Helene Brede und der Gestapostelle Kassel haben sich bedauerlicherweise nicht erhalten, sodass nicht ersichtlich ist, ob es weitere Kontakt-aufnahmeversuche zwischen Kaspar Brede und seiner Frau gegeben hat. Nachgewiesen ist jedoch ein Schreiben von Helene Brede vom März 1942 an den Polizeipräsidenten, in dem sie darum bittet, die Hohentorschänke an einen Pächter zur Wiedereröffnung überlassen zu dürften, und begründet dies mit der sich stetig verschlechternden finanziellen Lage der Familie. Auch dieses Ansinnen wird aufgrund „staatspolizeilicher Bedenken“ und mit dem Verweis auf die ausreichende Anzahl von Gaststätten in der Nähe der Hohentorschänke abgelehnt. Ebenso verfährt die Gestapo mit einem erneuten Antrag auf Verpachtung der Gaststätte, diesmal gestellt durch Bredes Tochter Elisabeth im Dezember 1942.
Indes wird Kaspar Brede nach seiner Zeit als Schutzhäftling im AEL Breitenau erneut in das Kasseler Polizeigefängnis verbracht, laut den von seinem Sohn ausgefüllten Dokumenten wurde er wegen „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ zu 7 Monaten Gefängnis verurteilt, welche er vermutlich – hierzu finden sich keine aussagekräftigen Unterlagen – in selbigem verbüßt haben dürfte. Allerdings wird Brede nach seiner (erneuten) Haftzeit im Polizeigefängnis nicht in die Freiheit entlassen, sondern direkt in der Konzentrationslager Sachsenhausen verlegt, wo er am 16.02.1942 eine Tüte mit Effekten abgegeben hat. Hier wird ihm die Häftlingsnummer 41084 zugewiesen und er wird im Block 23 interniert.
Appell, Baumtransport durch Häftlinge, Häftlingskommando im KZ Sachsenhausen
Ein knappes halbes Jahr später stirbt Kaspar Brede am 17.09.1942 im KZ Sachsenhausen, offiziell an der Ruhr. Seine Frau sowie sein Sohn Heinrich und seine Tochter Elisabeth verlieren im Folgejahr beim Bombenangriff auf Kassel am 22.10.1943 ihr Leben, nur Sohn Karl überlebt den Krieg und lebte bis zu seinem Tod weiterhin in Kassel.
Bastian Adam im Oktober 2023
Verlegung am 10.11.2023
Quellen und Literatur:
Stadtarchiv Kassel, Bestand A 3.32a, Nr. 1804
Stadtarchiv Kassel, Bestand A.5.55. Nr. 82
Stadtarchiv Kassel, Hausstandsbuch Hohentorstraße 22
Stadtarchiv Kassel, Bestand S 8 C 58 [Totenliste Altstadt nach Straßen]
Archiv des LWV-Hessen Bestand 2 (Breitenau), Nr. 5027
Archiv Sachsenhausen D 1 A/1228, Bl. 019
Archiv Sachsenhausen JSU 1/98, Bl. 254
Standesamt Oranienburg Nr. 2623/1942 (VIII), Bl. 268
arolsen archives, Dokumente zu Kaspar Brede
Form, Wolfgang/Engelke, Rolf: „Hochverrat“ - „Heimtücke“ - „Wehrkraftzersetzung“. Zur politischen Strafjustiz in Hessen, in: Knigge-Tesche, Renate/Ulrich, Axel (Hg.): Verfolgung und Widerstand in Hessen 1933 – 1945, Frankfurt am Main 1996, S. 26-43.
Richter, Gunnar: Das Arbeitserziehungslager Breitenau (1940 – 1945). Ein Beitrag zum national-sozialistischen Lagersystem, Kassel 2004.
Richter, Gunnar: Die Geheime Staatspolizeistelle Kassel 1933 – 1945, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 106 (2001), S. 229-270
Kammler, Jörg: Nationalsozialistische Machtergreifung und Gestapo – am Beispiel der Staatspolizeistelle für den Regierungsbezirk Kassel, in: Hennig, Eike (Hg.): Hessen unterm Haken-kreuz. Studien zur Durchsetzung der NSDAP in Hessen, Frankfurt am Main 1983, S. 506-535.
Kammler u. a. (Hg.): Volksgemeinschaft und Volksfeinde. Kassel 1933 – 1945 (Kasseler Quellen und Studien Bd. 5), Fuldabrück 1984.
Dettmar, Werner: Die Zerstörung Kassels im Oktober 1943. Eine Dokumentation, Fuldabrück 1983.
Adam, Bastian: „Warte nur, es kommt auch wieder einmal eine andere Zeit...“ - Ein biografischer Stolperstein für Kaspar Brede, in: Verein zur Förderung der Gedenkstätte und des Archivs Breitenau e. V. (Hg.): Rundbrief Nr. 29 (2010), S. 55 – 60.