Leon Boczkowski ist am 2. Juli 1908 in Kassel geboren. Seine Eltern waren Joachim Boczkowski und Elisabeth Karpe, die damals in der Wolfhager Str. 87 wohnten. Er war das 7. Kind von insgesamt 9 Kindern der Eheleute. Vater Joachim stammte aus dem kleinen Dorf Sembrowa, im Governement Lomsa, seinerzeit zum zaristischen Russland gehörig. Er war 1896 als Korkschneider nach Kassel gekommen. Die aus Kassel stammende Elisabeth und Joachim haben 1898 geheiratet und neun Kinder groß gezogen. Von 1914 bis 1922 ging Leon zur Bürgerschule, damals noch getrennt für Jungen und Mädchen. Die Familie wohnte in diesen Jahren nacheinander in der Hohentorstraße, der Moltkestraße und der Schlachthofstraße.
Nach Abschluss der Schule absolvierte er eine kaufmännische Lehre bei der Firma Wachenfeld & Schwarzschild in der Hohenzollernstraße. Sie handelte mit dem Vertrieb von Laborausrüstung und Vermessungsgeräten. Bis 1929 war er als Kaufmannsgehilfe bei ihr angestellt. Anschließend arbeitete Leon zusammen mit seinem Bruder Georg in der Firma Kork-Boczkowski in der Elfbuchenstraße.
In den 1920er Jahren wird er Mitglied im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands und später der KPD. Solange es möglich war, hat er mit seinen Genossen versucht den Machtantritt der Faschisten zu verhindern. Die Thälmann-Parole „Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt, wählt Krieg“, hat nicht genügt, alle potentiellen Nazi-Gegner zum entschlossenen Widerstand zu bewegen. Vielleicht wäre der Faschismus verhindert worden, wenn es zur Überwindung der tiefen Gräben zwischen den verschiedenen Lagern gekommen wäre. Über 50 Millionen Tote und Zerstörungen wären uns erspart geblieben.
Seit 1929 wohnen die Boczkowskis in Auguste-Viktoria-Straße 3. Am 18. Oktober 1933 dringen SA und Polizei in ihre Wohnung ein, um Leon Boczkowski zu verhaften. Da er nicht zu Hause war, werden seine dort anwesenden Brüder Georg und Bernhard mitgenommen. Leon ist noch am selben Tag bei seiner Rückkehr abgefangen und in Haft gekommen. Die Brüder werden trotzdem für einige Wochen im KZ Breitenau interniert und erst im November wieder freigelassen. Leon ist dann vor dem Strafsenat des Oberlandesgerichts Kassel mit anderen Genossen der Prozess gemacht worden. Am 20. April 1934 wird er wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 3 Jahren Gefängnis verurteilt (AZ OJ 182/33). Eine Notiz in der Kasseler Post vom 23.4.1934 berichtet über das Urteil.
Die Strafe verbüßt er bis zum 18.10.1936 in den Gefängnissen Hameln und Osnabrück in Einzelhaft. In Hameln saßen in diesen Jahren bis zu 400 politische Häftlinge ein. Darunter Heinrich Merle und Paul Oppenheim aus Kassel und Emil Carlebach.
Nahtlos schließen sich 9 Monate Schutzhaft im KZ Lichtenburg/Sachsen an. Er teilt das Schicksal vieler Widerstandskämpfer, die nach Verbüßung ihrer Strafe weiter weggesperrt werden. Schutzhaft war ein Instrument der terroristischen Herrschaftsausübung der Faschisten.
Im August 1937 wird er im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar unter der Häftlingsnummer 1231 als Zugang erfasst. Im September 1937 Überstellung nach Dachau – Häftlingsnummer 12686. Ein Beleg für seinen Aufenthalt in Dachau findet sich in dem Buch des kommunistischen Widerstandskämpfers Emil Carlebach – „Tote auf Urlaub“. Es ist zugleich ein Schlaglicht auf die Haft- und Lebensbedingungen der KZ-ler.
Vom 23. September 1938 bis 8. Oktober 1943, das sind 5 Jahre, ist er im Konzentrationslager Buchenwald. Mit der Häftlingsnummer 3374 ist er bis 1940 in der Haftkategorie „Politisch – Jude“ registriert. Die Zuschreibung rührte daher, weil Leons Vater Joachim Jude war. Ab 14.2. 1940 wird Leon als einfacher Schutzhäftling geführt. Die Änderung dürfte durch Vorlage entsprechender Nachweise über seine Geburt in einer privilegierten Mischehe bewirkt worden sein. Dabei hat sein Bruder Georg mitgewirkt. Vielleicht hat diese Einstufung ihm das Leben erleichtert oder gerettet.
Während seiner Buchenwald-Jahre liefen die Kriegsvorbereitungen der Nazis auf Hochtouren, es gab die November-Pogrome. Der Überfall auf Polen, Blitzkriege gegen Holland, Belgien und Frankreich fanden statt. 1941 wurde trotz Nichtangriffspakt die Sowjetunion angegriffen. Dann ließ die Schlacht bei Stalingrad um die Jahreswende 1942/1943 bei den Politischen die Hoffnung bzw. die Gewissheit wachsen, dass die Niederlage der Faschisten kommen werde. Man muss sich aber auch in Erinnerung rufen, dass 1941 der Beginn der Mordorgie „Endlösung der Judenfrage“ war.
Im Oktober 1943 wird Leon in das zu Buchenwald gehörende Außenkommando Leipzig abkommandiert. Er gehört zu einem Schub von etwa 900 Buchenwaldern, die zur Zwangsarbeit in das Flugzeugwerk Erla geschickt werden. In diesem Werk sind etwa 10 000 Jagdflugzeuge des Typs Messerschmidt Bf 109 montiert worden. Die zumeist politischen Häftlinge, Polen, Franzosen, Tschechen und Bürger der Sowjetunion, mussten unter erbärmlichen Bedingungen in Bezug auf Unterbringung und Ernährung arbeiten. Gegen Leon ist hier von der Leipziger Gestapo eine Untersuchung wegen Beteiligung an vermuteten Sabotageakten sowjetischer Gefangener geführt worden. Dabei war er 5 Wochen täglichen Verhören mit Misshandlungen ausgesetzt.
Leons letzte Station ist das Konzentrationslager Flossenbürg in der Oberpfalz. Am 24. Juni 1944 wird er unter Nummer 12800 eingeliefert. Flossenbürg ist 1938 als KZ in einem Granitsteinbruch errichtet worden. Bis zur Befreiung sind dort etwa 100 000 Gefangene gewesen. Anfangs mussten die Gefangenen dort schwerste Steinbruchsarbeit für die SS verrichten. Später trat die Rüstungsproduktion in den Vordergrund. Leon Boczkowski ist im Arrestgebäude der Kommandantur zum Teil in Dunkelhaft eingesperrt gewesen.
Im April 1945 sind die Häftlinge auf Evakuierungsmärsche geschickt worden, bei denen viele wegen Entkräftung und durch SS-Leute zu Tode kommen. Leon wird am 20. April 1945 in der Nähe von Cham – 40 km südlich Flossenbürg - durch amerikanische Soldaten befreit. Am 29. Juni 1945 meldet er sich wieder in Kassel, Brunnenstr. 53 an. Auf der Einwohnermeldekarte steht unter Bemerkungen „von KZ zurück“. Es findet sich auch die Weisung in rot „Bei Wohnsitzwechsel Mitteilung an Staatspolizeistelle Kassel, 26.6.35“.
Leon Boczkowski hat 138 Monate in 9 Haftstätten bei ständiger Ungewissheit und Todesangst hinter sich. Sie haben Spuren hinterlassen. Ein langwieriger und nervenaufreibender Kampf um Entschädigung, Rentenzahlung und Kostenübernahme für Heilbehandlung und Klinikaufenthalte schließt sich an. Er stirbt am 7.10.1976 in Kassel.
Für ihn gilt der Satz des Bundesentschädigungsgesetzes, „dass der aus Überzeugung oder um des Glaubens oder des Gewissens willen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistete Widerstand ein Verdienst um das Wohl des Deutschen Volkes und Staates war.“
Jochen Boczkowski, September 2019
Quellen:
Stadtarchiv Kassel : Meldeakten, StA KS A 5.55
Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: Entschädigungsakte HHStAW 518, 3567Emil Carlebach: TOTE AUF URLAUB: Kommunist in Deutschland – Pahl-Rugenstein 1995
Gedächtnis J. Boczkowski
http://www.gelderblom-hameln.de/zuchthaus/nszeit/gefaengnis/carlebach.html
https://de.wikipedia.org/wiki/KZ-Au%C3%9Fenlager_Leipzig-Thekla