Luise Nauhaus (1879–1941)
Luise Nauhaus zählt zu den weit über 200.000 Opfern der von den Nationalsozialisten 1939 – 1941 unter der
Tarnbezeichnung »T4« durchgeführten »Euthanasie«-Morde, die man als Auftakt und Vorbereitung zum Holocaust betrachten kann, zumal teilweise dieselben Personen an den Tötungsaktionen mitwirkten. Luise entstammte einer Ehe zwischen nahen Verwandten: Ihr Vater Wilhelm Nauhaus war der Onkel ihrer Mutter Johanna, der Tochter seines älteren Bruders Friedrich, der als Finanzbeamter in Seehausen (Altmark) und Burg bei Magdeburg lebte und später mit der Familie – Johanna hatte noch einen Bruder und eine Schwester – nach Kassel übersiedelte. Wilhelm selbst war in jungen Jahren mit einem weiteren Bruder als Missionar nach Südafrika gegangen, verließ jedoch den Dienst in der Mission und wurde Farmer. Als über 50-jähriger wohlhabender, aber kränklicher Mann kehrte er nach Deutschland zurück und heiratete 1875 die 22-jährige Nichte Johanna, deren Mutter er in der Jugend geliebt hatte. Mit ihr zog er nach Dresden.
Die Ehe war unglücklich, doch wurde im Juni 1879 als einziges Kind die Tochter Luise geboren. Als sie sechs Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Die junge Mutter floh nach Amerika, studierte in Philadelphia Zahnmedizin und erwarb den Doktorgrad, während Luise zunächst beim Vater blieb, der inzwischen in Erfurt lebte. Da er das Kind zwar in eine gute Schule gab, es aber ansonsten vernachlässigte, nahm Johanna Luise mit sich nach Kassel, wo sie als eine der ersten deutschen Zahnärztinnen praktizierte und in der Frauenbewegung aktiv wurde. Mit Luise lebte sie zeitweise bei ihren Eltern am Ständeplatz 21 und nahm später – zur Zeit des I. Weltkriegs – die unverheiratete jüngere Schwester, die gleichfalls Luise hieß, zu sich. Der Bruder Ferdinand hatte sich 1906 verehelicht und lebte mit seiner Frau in Zierenberg. Luises Vater, Johannas geschiedener Mann Wilhelm, war 77-jährig 1898 in Erfurt verstorben. Vor seinem Tode hatte eine Versöhnung der einstigen Eheleute stattgefunden.
Im Jahre 1903 zeigten sich bei Luise, die wegen der Berufstätigkeit der Mutter vielfach von den Großeltern betreut wurde, erste Anzeichen ihrer späteren psychischen Erkrankung: Sie entwickelte Wahnvorstell-ungen (meist religiösen Charakters) und legte teils aggressives Verhalten an den Tag. Sie musste deshalb und wegen Suizidgefahr in die Landesheilanstalt Marburg eingewiesen werden. Ob sie danach wieder eine zeitlang bei der Mutter leben konnte, ist ungewiss. Von 1905 an war sie jedoch Insassin der von Dr. Otto Brunner geleiteten privaten psychiatrischen Anstalt Neuenmühle im heutigen Kasseler Stadtteil Niederzwehren. Dem Bericht des Arztes entnehmen wir die einzigen Zeugnisse über das Wesen der »gesunden« jungen Frau: Sie wird als »sanft, still, gutmütig« beschrieben, und ihr wird eine »gute Auffassungsgabe« bescheinigt! – Anfang 1920 verstarb Johanna Nauhaus, die zuletzt in der Wilhelmshöher Allee 257 gewohnt hatte. Für Luise trat eine Pflegschaft in Kraft, und vermutlich aus finanziellen Gründen gelangte sie im Mai 1922 in das damalige Landeshospital, die spätere Landesheilanstalt Merxhausen. Diese war im Zuge der Reformation 1533 in einer ehemaligen Klosteranlage gegründet worden und ist somit die älteste noch heute existierende Pflegeinrichtung dieser Art in Deutschland.
Über den fast 20-jährigen Aufenthalt von Luise Nauhaus in Merxhausen sind wir durch ihre Patientenakte orientiert, die mit weiteren ca. 30.000 solcher Dokumente im Bundesarchiv Berlin aufbewahrt wird. Die Akte lässt Rückschlüsse auf Frequenz und Niveau der Betreuung der Kranken in einer solchen staatlichen psychiatrischen Anstalt zu. Während in den 1920er und beginnenden 1930er Jahren noch Wert auf eine regelmäßige Begutachtung der Insassen gelegt wurde, wenn auch nicht von Therapie im eigentlichen Sinne die Rede sein konnte, so sinkt die Häufigkeit der Arztberichte nach 1933 rapide, so dass in manchen Jahren nur noch ein oder zwei davon vorliegen. Der Zustand und das Befinden Luises, die als klein und zart geschildert wird, sinken parallel dazu kontinuierlich ab, so dass, wenn anfangs Wahnvorstellungen mit Autismus abwechseln, schließlich Zeichen von Hospitalismus und völliger Apathie unverkennbar sind. Lautete bereits die Aufnahmediagnose von 1922 auf unheilbare Schizophrenie, so heißt es in dem abschließenden ärztlichen Votum im April 1941 über Luise: »Vollkommen ausgebrannte Schizophrene, die stumpf und teilnahmlos dahinlebt [...]«, was bereits der Vorstufe zu einem Todesurteil nahekommt.
Gemäß der Verfügung des Reichsministeriums des Innern sind bereits im August 1940 die vorgeschriebenen Meldebögen aus Merxhausen nach Berlin abgegangen, auf deren Grundlage die Transportlisten für die Kranken vorbereitet werden. Im April, Mai und Juni 1941 werden mehr als 500 Patienten aus Merxhausen abtransportiert und damit wird die Anstalt für Lazarettzwecke »frei gemacht«. Am 30. April 1941 wird Luise in die sog. »Zwischenanstalt« Eichberg im Rheingau verlegt, am 28.Mai dann mit 131 Leidensgenossinnen in die Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg (heute Zentrum für Soziale Psychiatrie und Gedenkstätte) gebracht, wo sie an einem der folgenden Tage – das genaue Datum steht nicht fest – ermordet wird. Da sie keine näheren Angehörigen mehr hat, wird ihre Asche wie die aller übrigen Opfer an einen unbekannten Ort verbracht.
Ein entfernter Verwandter, der Musikforscher Dr. Gerd Nauhaus in Zwickau, klärte in den Jahren 2007–2009 Luise Nauhaus’ Schicksal auf, verfasste eine Gedenkschrift unter dem Titel »Unsere Schwester Luise« und bemühte sich intensiv um Setzung eines Stolpersteins zur Erinnerung an sie, was schließlich am 3.Novemder 2013 erfolgen konnte.