Im Januar 2018 erreicht mich ein Anruf von Frau Helga Klöker mit dem Vorschlag, einen Stolperstein für eine Freundin aus ihrer Kindheit zu verlegen. 1936 bis 1943 wohnten Helga Klökers Eltern im 3. Stock des Hauses Kasernenstr. 5. In der Nachbarwohnung wohnte die jüdische Familie Verständig. Sehr häufig kam deren Enkeltochter Edith bei den Verständigs zu Besuch, übernachtete auch bei Oma und Opa. Deshalb freundeten sich die Mädchen an. Viele Jahrzehnte später erinnert sich Frau Klöker an das Verschwinden ihrer Freundin Edith im Jahre 1939. Sie stößt damit eine Recherche zum Schicksal der Verständigs an mit dem Ergebnis, dass 2019 Stolpersteine gelegt werden.
Max Mendel Verständig ist am 18. Juli 1903 in Halberstadt geboren. Seine Eltern waren Josef und Serka Verständig, die damals in der Bakenstraße wohnten. Die Straße gehörte seit 1700 zu einem jüdischen Wohngebiet von meist aus Osteuropa zugewanderten armen Familien. Die Eltern müssen kurz vorher aus Galizien gekommen sein, denn der erstgeborene Sohn Markus ist noch in Sieniawa/Galizien geboren, die Nachgeborenen dann in Halberstadt und Plauen.
1911 ist er dann zusammen mit Eltern und Geschwistern in Kassel im Melderegister erfasst. Als seine Mutter am 28.11.1911 stirbt, kommt er ins israelitische Waisenhaus in die Gießbergstraße, genauso wie die Geschwister. Bis 1918 besucht er die jüdische Volksschule in der Großen Rosenstraße 22. Danach ist er bis 1923 vermutlich in der Lehre in Werther/Thüringen. Ein Jahr bleibt er in Kassel. Laut Melderegister Kassel lebt er von 1924 bis 1931 in Hameln.
Am 16. März 1932 heiraten Adele Lieblein und Max Mendel Verständig in Kassel. Ihre gemeinsame Wohnadresse ist Oberste Gasse 35. Das Haus gehört den Schwiegereltern. Adele ist am 17.4.1905 in Kalusz/Kalusch (damals Galizien, heute Ukraine) geboren. Ihre Eltern sind Meyer Lieblein und Esther Lieblein. Beide stammen aus Galizien. 1908 sind sie nach Kassel gekommen. Um 1920 betrieb Meyer einen Import-Eierhandel. Die Eltern sind in Kassel gestorben, ihre Gräber sind auf dem neuen jüdischen Friedhof (Abt. 3, Gräber 44 + 45).
Am 12.10.1932 kommt Tochter Edith zur Welt. Vermutlich ist sie 1939 noch in der jüdischen Volksschule eingeschult worden. Ein Besuch der öffentlichen staatlichen Schulen war Juden unmittelbar nach dem Novemberpogrom verboten worden, da es "keinem deutschen Lehrer … mehr zugemutet werden (kann), an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, dass es für deutsche Schüler unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen ...", hieß es in dem entsprechenden Runderlass.
In einem engen Zeitfenster 1937 bis 1939 begegnen sich im Hause Kasernenstraße Edith und Helga. Helga Klöker erinnert sich, dass sie nur in den jeweiligen Wohnungen zusammen spielen durften. Niemand sonst im Haus sollte mitbekommen, dass sie mit einem Judenmädchen spielt.
Im August 1939, wenige Tage vor dem Überfall auf Polen und dem Beginn des 2. Weltkrieges, verlassen die Verständigs Kassel. Sie haben erkannt, dass es für Juden keine Lebensperspektive mehr im faschistischen Deutschland gibt. Ob sie schon die von den Nazis später praktizierte Endlösung der „Judenfrage“ geahnt haben? Sie sind Mitte 30 und Edith 7 Jahre. In Brüssel finden sie Asyl.
Doch schon im Mai 1940 überfällt die Wehrmacht Belgien, die Niederlande und Luxemburg und errichtet auch dort ihr Unterdrückungs- und Terrorregime. Es beginnen erste Erfassung- und Verfolgungsmaßnahmen auch gegen Juden und die drei müssen in die Illegalität gehen. Vom Juli 1940 bis Juli 1942 verstecken sie sich auf der Mansarde des Hauses 113 avenue Louis Bernand, in Brüssel. Nur dank dem Mut und der Solidarität einer Belgischen Patriotin können sie zunächst weiter leben.
Im Juli 1942 gelang es den Eltern, Edith in einem Brüsseler Kloster unter falscher Identität unterzubringen. Zusammen 8 jüdische Kinder konnten so vor Entdeckung und Deportation bewahrt werden. Allerdings war sie auch dort in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt. Sie durfte sich nicht wie die anderen belgischen Kinder frei in allen Räumen bewegen, sondern musste sich bei Razzien in einem unterirdischen Gang des Klosters verborgen halten. Erst im Juli 1945 nach der Niederlage der Nazis und Befreiung vom Faschismus konnte Mutter Adele ihre Tochter aus dem Kloster abholen.
Max und Adele konnten weiter in halber Legalität leben. Ein letzter Brief der Eltern an ihre Tochter im Kloster zeugt von dem Wunsch und der Hoffnung, dass der Krieg bald ein Ende nehmen möge (siehe unten). Zumal die Wende sich nach dem Sieg der Sowjetarmee in Stalingrad schon abzeichnete. Aber am 28.September 1943 werden sie verhaftet und in das SS-Sammellager Mechelen – etwa 20 km nördlich Brüssel – eingeliefert. Mit Transport XXIII geht es im Januar 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz.
Sie sind beide um die 40 Jahre alt und noch in relativ guter körperlicher Verfassung. Viele dieser Häftlinge werden angesichts des Arbeitskräftemangels zur Zwangsarbeit in Rüstungsbetrieben eingesetzt und nicht wie Alte und Kranke in die Gaskammer getrieben. Max und Adele werden getrennt und verschiedenen Arbeitskommandos zugeteilt. In Adeles Verfolgtenausweis ist dokumentiert, dass sie als jüdische politische Gefangene nach Auschwitz im Frauen-KZ Ravensbrück, dann im Außenlager Malchow und zuletzt im Außenlager Taucha bis zum 25.April 1945 gefangen war. In Malchow/Mecklenburg befand sich ein Munitionswerk der Dynymit-Nobel. Bis zu 5000 Menschen darunter viele KZ-Gefangene, schufteten unter unmenschlichen Bedingungen. Die zehn Baracken des KZ-Außenlagers waren für jeweils einhundert Personen gebaut und teilweise fünffach überbelegt . Das Lager wurde am 2. Mai 1945 befreit. In Taucha befand sich ein Rüstungsbetrieb der HASAG in dem 1200 jüdische Frauen arbeiten mussten. Adele ist dann am 5 Juni 1945 nach Belgien repatriiert worden. Danach begann die Suche nach ihrem Mann Max und die Zusammenführung mit ihrer Tochter Edith.
Der Leidensweg von Max Verständig lässt sich nicht in Einzelheiten verfolgen. Er ist am 26. Januar 1945 im Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert worden. Er ist zu vermuten, dass er am Ende von Evakuierungstransporten, sprich Todesmärschen, dort todkrank angekommen ist. Sein Tod ist für den 10. Februar festgestellt. Tochter Edith hat 2001 beim Portal Yad Vashem ein Gedenkblatt für ihren Vater errichtet.
Adele ist nach der Befreiung nach Deutschland zurückgekehrt und hat bis zu ihrem Tod am 14..02.1998 in Frankfurt/Main gelebt, zusammen mit dem aus Kassel stammenden Auschwitz-Survivor Julius Rosengarten.
Edith hat sich nach Frankreich verheiratet und in Toulouse unter dem Namen Bilfeld gelebt. Aus dieser Ehe leben die beiden Söhne Pierre und Claude. Sie haben Bilder und Dokumente zur Verfügung gestellt und sind zur Verlegung nach Kassel gekommen. Edith ist 2007 in Toulouse gestorben.
Brief der Eltern Adele und Max an Tochter Edith (11 Jahre alt) verborgen im Kloster. 8 Tage später werden die Eltern verhaftet und ins SS-Sammellager gebracht. Edith hat diesen Brief ihr Leben lang bewahrt.
Brüssel, den 20. September 1943
Meine liebe kleine Edith!
Heute will ich dir einige Zeilen schreiben und deinem kleinen wöchentlichen Päckchen beilegen.
Ich hoffe, dass es dir stets gut geht, und dass du dich schnell an das Pensionat … (gewöhnt) hast nach den schönen Ferien auf dem Land. Bei uns gibt es nichts Neues und damit sind wir schon sehr zufrieden. Nur noch 2 Wochen und man wird sich schon wiedersehen. In der Zwischenzeit wäre es gut, wenn der Frieden endlich auf die Welt zurückkommt.
Ich umarme dich ganz fest, liebe kleine Edith
Adele und Max
Ich umarme dich noch einmal, mein Liebling… Adele
(Übersetzung 07-2019 GS)
Führerschein, ausgestellt für Mendel Verständig,
unterschrieben "Max Verständig", am 20. Juli 1928 in Magdeburg.
Quellen und Literatur
Adressbücher Kassel
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Entschädigungsakte HHStAW 518, 71747
Kleinert und Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels, Hg. Stadt Kassel, 1986
http://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch
https://www.geschichtsspuren.de/artikel/ruestungsproduktion-logistik/104-munitionswerk-
https://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de; Bilder aus Privatbesitz Bilfeld, Toulouse
Jochen Boczkowski, Juni 2019
Nachtrag November 2021
Wir verdanken Nicole Tödtli vom Stadtarchiv Kassel folgenden Hinweis:
Max Verständig ist im Zusammenhang mit den November-Pogromen 1938 verhaftet worden und am 10. November als „Aktionsjude“ in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden, zusammen mit etwa 250 weiteren Männern aus Kassel. Diese Inhaftierung und die dabei erfahrene entwürdigende Behandlung dürfte seinen Entschluss zur Emigration nach Belgien beeinflusst haben.