Das Haus Oberste Gasse 34 gibt es nicht mehr. Es befand sich etwa dort, wo heute die Behindertenparkplätze am Entenanger sind. Die damalige Entengasse war höchstens 10 m breit. Ein Großteil der Kasseler Innenstadt ist im Lauf des von Deutschland entfesselten Weltkrieges zerstört worden. Die Vorbereitung des Krieges, die Verfolgung und Vernichtung von Juden, Sinti und Roma und politischen Gegnern sind im Zusammenhang einzuordnen.
An dieser Stelle liegen auch die Stolpersteine für die Familie Popper, die gleichfalls in der Obersten Gasse 34 wohnte und Hauseigentümer war.
Moritz Kaschmann ist am 23. Mai 1895 im damals noch selbständigen Wehlheiden geboren. Seine Eltern waren Emanuel und Ida Kaschmann, geb. Plaut. Emanuel war Viehhändler und stammte aus einer Dynastie von Viehhändlern aus Roppershausen im Schwalm-Eder-Kreis. Moritz hatte 2 Geschwister – Frieda Jahrgang 1893 und Josph Jahrgang 1897.
Etwa 1905 ist die 5-köpfige Familie in die Orleanstraße 47 (heute Erzbergerstraße) gezogen. Damals war Moritz 10 Jahre alt. Bis 1933 haben sie dort gewohnt
Emma Speier – später verheiratete Kaschmann – ist am 22. Mai 1896 in Hoof (Schauenburg) in einer kinderreichen Familie geboren. Ihre Eltern waren Wolf und Hannchen Speier. Sie hatte 7 ältere Geschwister (Siegmund, Salli, Julius, Felix, Hermann, Gustav und Bertha).
Moritz und Emma haben 1926 in Kassel geheiratet. Sie waren damals 31 und 30 Jahre alt und haben ebenfalls in der Orleanstraße 47 im 2. Stock gewohnt. Auch dieses Haus gibt es nicht mehr. Moritz war als selbständiger Händler im Wäsche- und Sprituosenhandel tätig, vermutlich ohne Ladengeschäft.
Das Ehepaar hat 2 Kinder, den 1928 geborenen Fred Siegfried und die 1931 geborene Hannelore.
1933 wechseln die 4 Kaschmanns zusammen mit Großvater Emanuel in die Oberste Gasse 34 und werden Mieter im 3.Stock im Hause Popper. Es ist zu vermuten, dass der Umzug mit der Nazimachtübernahme zusammen hängt. Es verschwindet der Eintrag im Branchenverzeichnis des Adressbuches. Juden durften auch kein Telefon mehr haben. Und der am 1. April 1933 reichsweit ausgerufene „Judenboykott“, dürfte zu einer Minderung der Einnahmen geführt haben
Ein Familienbild, etwa 1936/1937 in einem Fotostudio aufgenommen, strahlt noch heile Welt aus. Auf ihm ist neben der Kaschmann-Familie auch Emmas Vater Wolf Speier, der noch 1939 nach USA auswandern konnte, zu sehen. Von links: Hannelore, Großvater Emanuel Kaschmann, Emma und Moritz, Großvater Wolf Spier und Fred.
Das Bild stammt von Helene Frank aus USA. Ihr Vater war ein Cousin von Moritz Kaschmann. Sie hat es 1980 bei Yad Vashem zusammen mit Gedenkblättern für die Kaschmann-Familie eingereicht.
Ab Oktober 1938 durfte Moritz nicht mehr als Händler tätig sein, sondern war als Erdarbeiter zwangsverpflichtet, wobei ihm Ischias und ein Nervenbeinleiden schwer zu schaffen machten. Bei den Novemberpogromen 1938 wird er mit 256 anderen Kasseler Juden ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Er erfährt dort demütigende und entwürdigende Behandlung. Seine Frau unterstützt ihn mit 2 Überweisungen. Nach einem Monat wird er wieder entlassen.
"Aktionsjuden" im KZ Buchenwald - Geldkarte von Moritz Kaschmann
Im April 1941 wird Familie Kaschmann behördlich gezwungen in das Judenhaus Moltkestraße 10 umzuziehen. Auch Großvater Emanuel, 89 Jahre alt, muss mitziehen. Die zwangsweise eingewiesenen Menschen lebten auf engstem Raum unter unwürdigen Bedingungen. Das Haus durfte nachts nicht verschlossen werden. Die Gestapo wollte jederzeit Zugang zum Haus haben. Am 9. November 1941 stirbt Emanuel an Altersschwäche.
Kennkarten von Emma uind Moritz Kaschmann (StadtA Kassel)
Im November 1941 sind die Kaschmanns informiert worden, dass sie demnächst in den Osten umgesiedelt werden. Spätestens am 8. Dezember mussten sie sich in der Schutlurnhalle der Schillerstraße mit Reisegepäck und Verpflegung für 3 Tage einfinden. Dort führte die Gestapo Kontrollen der Kennkarten und des Gepäcks durch.
Julius Rosengarten JG 1902, Überlebender aus Kassel erinnert sich an diesen Tag: „Es fand keine Untersuchung auf Arbeitsfähigkeit statt, sondern wir wurden untersucht, d.h. die Kleidung, ob wir unerlaubte Gegenstände mitführten. Wir mussten uns nackt ausziehen und auf ein Stuhl stellen, damit man uns ins Gesäß schauen konnte. . . . In der Schule hatten wir erfahren, dass wir nach Riga kommen. Wir vermuteten, dass wir unter schlechten Bedingungen schwere Arbeit leisten sollten. Aber wie es dann gekommen ist, daran hat niemand geglaubt“
Es muss ein unbeschreibliches Gedränge gewesen sein, denn fast 1000 Menschen aus Kassel und Umgebung mussten die Nacht vor der Abfahrt dort verbringen.
Am folgenden Tag, dem 9. Dezember, wurde die tausendköpfige Menge unter Bewachung in einer langen Kolonne durch die Schillerstraße, die Orleanstraße, die Bahnhofstraße zum Hauptbahnhof getrieben. Abfahrt um 16:50 Uhr. Ankunft in Riga nach 70 Stunden am Nachmittag des 12. Dezember.
Bei strenger Kälte mussten sie den 5 km langen Weg zu Fuß ins Ghetto marschieren, aus dem tage zuvor die Rigaer Juden in den Tod geschickt worden waren.
Ghetto Riga (Fotos: Bundesarchiv)
Es gibt keine die Kaschmann-Familie betreffenden Informationen über ihr weiteres Schicksal in Riga. Irgendwann ist Moritz von Emma und den Kindern getrennt worden. Ob sein Leben in Riga oder einem anderen Lager geendet hat, ist nicht bekannt. Er war noch keine 50 Jahre alt.
Zu vermuten ist, dass Emma Kaschmann und ihre Kinder bis zur Auflösung des Rigaer Ghettos im November 1943 dort gefangen bleiben und danach in eines der Nebenlager von Riga-Kaiserwald kamen und dort Zwangsarbeit leisten mussten. Beim Näherrücken der Sowjetarmee wurde Kaiserwald aufgelöst und die Häftlinge ins KZ Stutthof bei Danzig verlegt.
Für Emma, Fred und Hannelore Kaschmann existieren Häftlings-Personal-Karten. Danach sind sie am 9.8.1944 im KZ Stutthof von der Sicherheitspolizei Riga eingewiesen worden.
Erika Mannheimer aus Bad Wildungen berichtet über diese Tage:
"3 Tage bevor der Russe kam, wurden wir Frauen kahl geschoren und bekamen Sträflingskleider an, dann wurden wir am Hafen zu Riga auf ein großes Schiff verfrachtet, und 3 Tage und 3 Nächte fuhren wir weiter unserem Schicksal entgegen. Am 9.8.1944 im Danziger Hafen wurden wir ausgeladen. . . . und in das KZ-Lager Stutthof eingesperrt.“
Insgesamt durchliefen zwischen September 1939 und April 1945 etwa 110.000 Häftlinge aus 27 Ländern das Lager. Etwa 65.000 von ihnen kamen ums Leben.
Häftlingskarte von Emma Kaschmann (arolsen archives) - Häftlingsbaracken in Stutthof
Von Ende Januar bis April wurde Stutthof geräumt und Tausende auf Todesmärsche geschickt. 2.000 Häftlinge – darunter auch die Kaschmanns - wurden dagegen in offenen Kähnen nach Neustadt in Holstein gebracht und sollten von dort an Bord der Cap Arcona kommen, auf der sich bereits Tausende KZ Häfltinge befanden. Die Anbordnahme wurde abgelehnt. Durch qualvolle Enge starben viele schon an Bord. Nachdem die SS- Bewacher abgezogen waren, trieben die Schuten in der Nacht an Land. Am Morgen des 3. Mai 1945 wurden die Überlebenden am Strand entdeckt. Statt ihnen zu helfen, trieben Neustädter Bürger, Angehörige der Kriegsmarine, einer Versehrteneinheit und des Volkssturms in einer sogenannten „Sammelaktion“ die Menschen zusammen und erschossen mindestens 208 von ihnen. Zu den Erschossenen müssen auch Emma und Fred Kaschmann gehören, die in einem der Massengräber verscharrt werden.
Hannelore hat zwar das Massaker überlebt, stirbt aber schwer krank am 27. Mai 1945 – 10 Tage vor ihrem 14. Geburtstag – im Landeskrankenhaus Neustadt. Es gibt ein Grab auf dem jüdischen Friedhof in Neustadt.
Das Massaker von Neustadt bleibt wie viele Kriegsendeverbrechen ungesühnt. Ein Überlebender der Ereignisse ist Manfred Goldberg, 1930 in Kassel geboren. Für ihn und seine Familie liegen Stolpersteine in der Müllergasse 2. Er lebt in London.
Beerdigungs-Bescheinigung und Sterbeurkunde von Hannelore Kaschmann (arolsen archives)
Im Rigaer Ghetto-Museum gibt es ein Foto, das Hannelore Kaschmann zugeordnet wird. Der lettische Historiker Andrievs Ezergailis hat es für sein Standardwerk über den Holocaust im besetzten Lettland auf der Titelseite verwendet. In Lettland soll Hannelore Kaschmann so zu dem Gesicht des Holocaust geworden sein.
Jochen Boczkowski, September 2024
Verlegung am 17. Oktober 2024
Quellen und Literatur
Kleinert und Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945 – HG Stadt Kassel – 1986
Staatsarchiv Marburg - Personenstandsurkunden
Bundesarchiv: Gedenkbuch Opfer der der Verfolgung der Juden
Stadtarchiv Kassel: Adressbücher Kassel
arolsen-archives
https://www.geni.com/people/Wolf-Speier/6000000032260775293
Monika Kingreen: Die Deportation der Juden aus Hessen – 2023
https://jinh.limacity.de/gene/forschung_greve/Nachkommen_des_JOSEPH_MOSES_KASCHMANN_aus_Ropperhausen.pdf
https://collections.yadvashem.org/en/names/14016609
https://reflections.news/de/podcast-rezension-besser-spat-als-nie-erinnerungskultur-in-neustadt-in-holstein/