Dieser Bereich der Altstadt wurde im Krieg vollkommen zerstört und nicht auf dem alten Grundriss wieder aufgebaut.
Oben: Auf dem Luftbild links verweist der Pfeil auf die Packhofstraße, rechts die Packhofstraße auf dem Stadtplan 1943. Unten links jeweils das Karlshospital. (Unibibliothek Kassel - Amt für Vermessung und Geoinformation)
Unten: Aktueller Stadtplan (Unten mit Nr. 2a das Karlshospital - Amt für Vermessung und Geoinformation) Die Steine liegen am Töpfemarkt gegenüber Haus Nr. 5)
(Beide Karten sind nicht eingenordet.)
Familie GOLDSCHMIDT stammte väterlicherseits aus Hoof, der einst größten jüdischen Landgemeinde in Nordhessen. Es gab dort seit den 1820er Jahren eine jüdische Schule mit Lehrerwohnung, eine Synagoge und eine Mikwe (rituelles Bad). Der gemeinsame jüdische Friedhof für Hoof und Breitenbach, wo es ebenfalls eine jüdische Gemeinde gab, liegt auf Breitenbacher Gebiet.
Der Vater Felix GOLDSCHMIDT, wurde am 26. Juni 1880 als Sohn des Kaufmanns Sandel GOLDSCHMIDT und dessen Ehefrau Bertha, geb. SCHÖNEBERG in Hoof geboren. Er wurde später Kaufmann wie sein Vater; auf seiner Kennkarte aus dem Jahr 1939 gb er Textilkaufmann als erlernten Beruf an. Er muss als junger Mann Hoof verlassen haben, denn als er 1904 für ein paar Monate nach Kassel zog, kam er aus Hamm in Westfalen und zog dann nach Braunschweig
Er war im 1. Weltkrieg Kriegsteilnehmer vom 30.6.1915 bis 4.10.1919 als Musketier im „Res. Ers. Reg. 4, Hannover.“ Danach zog er wohl wieder nach Hoof. Eine Kriegsverletzung am linken Knie behinderte ihn zeitweise, so ist es auf der Kennkarte vermerkt. Er hatte dann auch kein „Arbeitsbuch“, wohl weil er selbstständig war.
Die Mutter Frieda ROBERG wurde am 12. Juni 1894 in Diepholz geboren. Ihre Eltern waren der Kürschner Bernhard ROBERG und Ehefrau Else, geb. ELSBACH aus Diepholz. Frieda besuchte 2 Jahre die „Stadttöchterschule Hannover“ und 1 ½ Jahre die Handelsschule Meiningen. Laut Stadtverwaltung Diepholz war Frieda ROBERG dann „1914 nach Osnabrück verzogen und verlobte sich mit dem Kaufmann L. Resnitzki in Kassel“ – so meldete 1920 das Kreisblatt Diepholz.
Mit ihrer inzwischen verwitweten Mutter Else kam Frieda 1919 von Diepholz nach Kassel, wo sie in der Wörthstraße 28 (heute Hofmann-von-Fallersleben-Straße) wohnten.
Vermutlich haben sich Frieda ROBERG und Felix GOLDSCHMIDT dann in Kassel kennen gelernt. Als die beiden am 2. Februar 1921 heirateten, war er 41 und sie 27 Jahre alt. Die gelernte Verkäuferin hatte Kenntnisse und Erfahrung in Buchhaltung und Maschine schreiben; vermutlich arbeitete sie im Geschäft ihres Mannes mit. Sie konnte neben Nähen, Kochen und Gartenbau auch Kinder- und Krankenpflege, wie 1939 auf ihrer Kennkarte vermerkt wurde. Das Ehepaar lebte seit der Hochzeit zunächst in Kassel in der Wörthstraße 28. Die älteste Tochter Ruth wurde am 11. Mai 1922 in Kassel geboren. Seit Ende 1925 wohnte die Familie laut Adressbuch in der Korbacher Straße 28 in Hoof, dem Heimatort von Felix. Hier kam die jüngere Tochter Marlit am 29. Mai 1928 zur Welt. Da war ihr Vater schon 48 und die Mu8er 34 Jahre alt.
Ruth und Marlit lebten zunächst mit ihren Eltern in Hoof. Ruth war 14-jährig im Sommer 1936 sechs Wochen in Kassel, Grüner Weg gemeldet, dann wieder in Hoof. Danach verzog sie irgendwann nach Hannover, vielleicht um dort mit dem Abschluss der Volksschule eine Ausbidlung zu absolvieren oder vielleicht ein einem Haushalt zu arbeiten.
Marlit lebte 9-jährig ab Dezember 1937 in der Gießbergstraße 7 im israelitschen Waisenhaus. Das war bereits ganz offensichtlich eine Folge der zunehmenden Ausgrenzung und Verfolgung in der dörflichen Gemeinde.
1933 hatte die jüdische Gemeinde in Hoof noch etwa 100 Mitglieder, die bis dahin weitgehend in das dörfliche Leben integriert waren, selbst in einem so nationalen Verein wie dem Kyhäuserbund. Die Gaststätte ihres Gemeindemitglieds Meinhard Gumbert war Treffpunkt für das ganze Dorf. Seit 1933 gab es zwar auf der einen Seite Nichtjuden, die an dieser Integration der jüdischen Bevölkerung in das Gemeindeleben keine Abstriche machten, was die Aufmerksamkeit des antisemitischen Hetzblattes der Nationalsozialisten, „Der Stürmer“, im Jahr 1934 erregte. Auf der anderen Seite gingen Hoofer zunächst vorsichtig, dann immer rücksichtloser auf Distanz zu ihren jüdischen Mitbürgern. „Onkel“ durfen jüdische Kinder nun nicht mehr wie bisher üblich öffentlich zu ihrem Nachbarn sagen, sie selbst mussten sich als „Drecksjuden“ beschimpfen lassen und auch in der Schule erfuhren sie zunehmende Ausgrenzung, Drohungen und Misshandlungen. Wie das Ehepaar Goldschmidt ihre Tochter Marlit schickten Eltern ihre Kinder zunehmend auf die jüdische Volksschule in Kassel, wozu sie im israelitschen Waisenhaus untergebracht wurden. Dort fanden allein 1937 sieben Kinder aus Hoof eine Bleibe.
Bis 1935 waren bereits einige Familien ins Ausland gegangen, andere verließen danach den Heimatort. Die übrigen, wie auch die Angehörigen der Familie Goldschmidt, erlebten das Ende jüdischen Lebens in ihrer Heimatgemeinde Hoof im November 1938. Am Abend des 8. November 1938 (also einen Tag vor dem reichsweiten Pogrom) wüteten aus anderen Dörfern gekommene SA-Leute in Hoof. Angetrunken verwüsteten sie die Synagoge, trieben jüdische Bewohner aus ihren Häusern, verprügelten und beschimpten sie. Allerdings fanden sich auch in Hoof Mittäter aus dem Ort selbst, so ein 33-jähriger Arbeiter, der zu Hause mit Verwandten Schnaps trank, als der bemerkte, was geschah, und sich dann dem Mob anschloss um zu plündern. In der Synagoge versuchte er, Glühbirnen aus dem Kronleuchter zu entwenden, bei einer jüdischen Familie nahm er kostbare Stoffe mit, bei einer anderen entwendete er eine Geldbörse und versuchte vergeblich, den Stromzähler aus der Wand zu reißen und mitzunehmen. Seine Plünderungen beendete er erst um 3 Uhr nachts. Das Geschäft und Haus der Rosenbachs in der Korbacher Straße war zum Beispiel Ziel solcher Brutalitäten. Am nächsten Morgen fand man die Ladeneinrichtung und Waren über die ganze Straße vor dem Haus verstreut, ebenso wie andernorts Haushaltsgeräte, Einrichtungsgegenstände oder Kinderspielzeug. Ob auch das Wohnhaus der Goldschmidts betroffen war, das gleichfalls in der Korbacher Straße lag, wissen wir nicht.
Nach dem Pogrom ha8en die Hoofer Juden innerhalb kurzer Zeit die Gemeinde zu verlassen, Hauseigentümer unter ihnen ihr Eigentum zu verkaufen. Eine Erfassungsstelle in Kassel wies sie in Häuser im Bereich zwischen Altmarkt und Grünem Weg ein. Christan Abendroth fasst zusammen: „Als im Laufe des Novembers 1938 fast täglich größere Gruppen von jüdischen Familien mit dem Wenigen an Hab und Gut, das man tragen bzw. mit öffentlichen Verkehrsmi8eln befördern konnte, in Begleitung von SA-Männern die Dörfer an der Schauenburg (…) zwangsweise in Richtung Kassel verließen, ging ein Kapitel Geschichte, das z. B. in Hoof vor mehr als 350 Jahren begonnen hatte, jäh und unwiderruflich zu Ende.“
Anfang Dezember 1938 zogen Ruth Goldschmidt und ihre Eltern in die Packhofstr. 18, 1. Stock, zu der jüdischen Hauseigentümerfamilie Elsbach. Ruth, inzwischen 18 Jahre alt, kam Ende Dezember von Hannover dazu und arbeitete und wohnte dann von Februar 1939 bis Mai 1940 in der Gießbergstraße 7 bzw. der Großen Rosenstraße 22 als Hausgehilfin im israelitischen Waisenhaus, ehe sie im Mai 1940 wieder in der Packhofstraße war. Vater Felix hielt sich seit Mai 1939 drei Monate ebenso in Berlin auf wie die Tochter Ruth von September bis November 1941. Zu vermuten ist, dass sie nach Auswanderungsmöglichkeiten für die Familie suchten, was aber erfolglos war. Schließlich lebten die vier Familienmitglieder für nur noch eine kurze Zeit wieder zusammen in der Packhofstraße.
Ghetto Riga - Arbeitskolonne im Ghetto
Denn am 9. Dezember 1941 wurden die Eltern und ihre beiden Töchter im Alter von 18 und 13 Jahren mit dem 1. Transportzug von Kassel ins Ghe8o Riga deportiert. Vom Vater, damals schon 61 Jahre, fehlt seitdem jede Spur. Im Ghetto zielte die deutsche Besatzungsmacht darauf ab, die Arbeitskraft der Häftlinge auszubeuten. Die Überlebenschancen von Kindern und älteren Menschen waren somit gering, mitunter waren sie bereits einer Selektion unmittelbar nach ihrer Ankunft in Riga zum Opfer gefallen.
Die Mutter, 14 Jahre jünger und 47 Jahre, und ihre beiden Töchter deportierte man vor der anrückenden sowjetischen Armee am 1.10.1944 ins KZ Stutthof. Die Mu8er hatte die Häftlingsnummer 95075, ihr Todestag war am 14.1.1945. Sie war 51 Jahre alt. Ruth hatte die Nr. 95076, sie starb mit 22 Jahren am 29.12.1944 in Stutthof. Marlit hatte die Nr. 95077. Nur von ihr liegt aus 1944 – da war sie 16 Jahre - eine Personenbeschreibung des KZ Stutthof vor: Neben ihrer Kasseler Adresse, den Personalien und Namen ihrer Eltern wird erwähnt, dass sie deutsche Staatsangehörige, mosaischer Religion, ledig war, zur Mittelschule ging und ohne Beruf war. Weiter wurde vermerkt: schlanke Gestalt, ovales Gesicht, braune Augen, normale Nase, Mund und Ohren, gute Zähne, dunkle Haare, deutschsprachig; keine ansteckenden Krankheiten oder Gebrechen, keine besonderen Kennzeichen. Demnach wurde sie „am 1.7.1942 am Orte“ verhaftet und von der Sipo (Sicherheitspolizei) Riga am 1.10. 1944 eingeliefert. Ein Todesdatum für Marlit gibt es nicht, auch nicht von ihrem Vater Felix.
Gudrun Schmidt, Oktober 2024
Quellen und Literatur
„Namen und Schicksale der Juden Kassels“, bearbeitet von B. Kleinert und W. Prinz, Hrsg. Stadt Kassel 1986 Stadtarchiv Kassel, Hausstandsbuch Bestand A 3.32 / HB 200 und 495, Auskünfte von Anika Manschwetus
Bundesarchiv – Gedenkbuch: Opfer der Verfolgung der Juden
Standesamt Diepholz Wikipedia „Geschichte der Juden in Os6riesland“; „Stutthof“
Wolfgang Ma8häus, Kaiserstraße 13, Kassel 2014