Sally, Helene, Martin, Benno und Michael Kaufmann

Kölnische Straße 77                    verlegt am 23. 5 2017

Im September 1933 hat Familie Kaufmann Kassel verlassen. Sie ist mit ihren 3 Söhnen über Belgien und Frankreich nach Palästina geflohen. Nur wenige Monate zuvor waren die Rechtsanwälte Max Plaut und Julius Dalberg von SA-Schlägern schwer misshandelt worden. Plaut ist daran gestorben.

 Sally Kaufmann befürchtete als langjähriger Herausgeber der Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck ein ähnliches Schicksal. Er hat mit diesem Schritt das Leben einer ganzen Familie gerettet.                                                                        aus dem Adressbuch der Stadt Kassel 1932

Sally Kaufmann ist 1890 in Ungedanken am Fuße des Bürabergs bei Fritzlar geboren. Seine Eltern waren Markus Kaufmann und dessen 2. Ehefrau Bettina. Sally hatte 3 Brüder und 2 oder 3 Schwestern aus der ersten Ehe seines Vaters. In Ungedanken hat es etwa ab 1650 eine kleine jüdische Gemeinde gegeben. Vater Markus war von 1874 bis 1891 bis zu seinem Tod Lehrer an der jüdischen Volksschule mit nahezu 50 Schülern. Sein Grabstein steht auf dem Jüdischen Friedhof in Ungedanken.                                                                   

Sally ist in  Fritzlar zur Schule gegangen. Anschließend hat er eine kaufmännische Lehre gemacht. Im

Ersten Weltkrieg  diente er 1915/1916 in einem Infanterieregiment bis zu seiner Verwundung. Die Meldekarte verzeichnet, dass er sich 1918 mit eigener Kasseler Wohnadresse angemeldet hat.

1921 ist Helene Kaufmann, geb Enoch nach Kassel gekommen. Geheiratet haben sie am 24.3.1921. Gemeinsam haben sie zunächst in der Hohenzollerstr. 6 zur Untermiete bei der Witwe Goldschmidt gewohnt. Helene ist 1897 in Darmstadt geboren. Ihre Eltern waren Schneidermeister Moses und Sarah Enoch, die 1934 noch in Darmstadt, Alexanderstr. 6 gewohnt haben.

 

Das erklärt auch, warum Martin Kaufmann, das erste Kind von Helene und Sally, am 3. Februar 1922 in Darmstadt zur Welt gekommen ist. Seine Kindheit und die ersten Schuljahre verbrachte Martin in Kassel. 1932 wechselte er zur weiterführenden Wilhelmsschule in der Humboldtstraße.

In der Hohentorstraße 9 war bis 1931 die Wohn- und Geschäftsanschrift der Kaufmanns. Denn hier betrieb die Familie im Erdgeschoss des Hauses von 1921 bis 1927 ein Lebensmittelgeschäft. D9e Wohnung war im

2. Stock.   war eine Metzgerei. Das 5-geschossige Haus gehörte der jüdischen Metzgerfamilie Loeb.

Sohn Benno Kaufmann ist am 6. November 1924 geboren und Sohn Michael kam am 16. Juli 1931 zur Welt.

Parallel zum Lebensmittelladen war Sally Kaufmann ab 1924 als Herausgeber und Redakteur der Jüdischen Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck tätig. Ab 1928 dürfte die Zeitungsherausgabe sein Hauptberuf gewesen sein. Er schreibt in 1955:

. . . .  Im Jahre 1915 wurde ich eingezogen und 1916 an der Somme schwer verwundet. Ich lag zuerst im Johaniter Siechenhaus Berlin und nachher bis 1918 in Kassel im Lazarett. Ich war Gefreiter . . . Ich erhielt das E.K.II  . . .  Nach Verlassen des Lazaretts bis zum Verlassen Kassels widmete ich mich der Kriegsblindenfürsorge. Von 1918 bis 1921 war ich Geschäftsführer der Firma M. Bär, Glas- und Porzellangeschäft in der Unteren Königsstrasse 68. Im Jahre 1921 machte ich mich selbststaendig. Im Jahre 1924 gründete ich die Juedische Wochenzeitung für Kassel, Hessen und Waldeck. Die Juedische Gemeinde zahlte mir monatlich 250 Mk und alle Bekanntmachungen der Gemeinde wurden hier veroeffentlicht. Ich druckte die Zeitung in der Druckerei des Volksblattes. Ich war Redacteur und Verleger . . . . Ab 1926 erweiterte ich die Zeitung zum Verlag Juedischer Wochenzeitungen. Es erschienen Kopfblaetter in Hannover, Braunschweig, Bremen, Chemnitz, Dortmund, Elberfeld, Duisburg, Düsseldorf  .  .  .  .

Martin (links) und Benno mit Mutter Helene   etwa 1930


 Die in den Jahren 1924 bis 1933 erschienen Ausgaben der Wochenzeitung Kassel sind mit einigen Lücken erhalten. In der UNI-Bibliothek Kassel (früher Landes- und Murhardbibliothek) sind sie auf Mikrofilm archiviert. Das Leo Baeck Institut NewYork/Berlin hat 250 Nummern  unter  https://archive.org/details/juedischewochenzeitung ins Netz gestellt.

Professor Dietfrid Krause-Vilmar hat in seiner 2006 erschienen  Arbeit „Streiflichter zur neueren Geschichte der Jüdischen Gemeinde Kassel“ auch der Jüdischen Wochenzeitung ein Kapitel gewidmet. Mit seiner Erlaubnis darf ich hier zitieren:

        Die Jüdische Wochenzeitung

Zwischen der Mitte des Jahres 1924 und Anfang 1933 erschien in kleiner Auflage (450 Exemplare) die Jüdische Wochenzeitung für Cassel, Hessen und Waldeck.

Sie hatte einen Umfang von 8 bis 12 Seiten, erschien regelmäßig freitags, wurde im Verlag des sozialdemokratischen Casseler Volksblatts gedruckt und von Sally Kaufmann herausgegeben. Die Jüdische Wochenzeitung war zunächst ein Mitteilungsblatt der Kasseler Gemeinde. Zugleich stellte sie in vielerlei Hinsicht eine bemerkenswerte Zeitung dar, was im Folgenden knapp verdeutlicht werden soll. Sie bemühte sich um die Wiederherstellung einer bewussten Tradition jüdischen Denkens und Handelns. Eine Voraussetzung dafür sah sie im Anknüpfen an geschichtliche Erfahrungen der Juden in Deutschland. In zahlreichen Beiträgen (vor allem von Ludwig Horwitz) wurde versucht, die Geschichte der Kasseler Gemeinde, ihrer gestaltenden Persönlichkeiten und der wichtigsten Ereignisse wieder „auszugraben“ und den Zeitgenossen zu überliefern. Es gibt kaum ein Heft, in dem nicht – und wenn nur in Form einer knappen Vita einer bedeutenden Persönlichkeit der Gemeinde – dieser klare historische Bezug erkennbar wäre. Die meisten dieser Beiträge sind archivalisch fundiert und behalten ihren besonderen Wert, da die benutzten Urkunden oder Akten zum Teil im letzten Krieg vernichtet worden sind. Am Ende dieser „Wendung zur eignen Geschichte“ – so könnte man diesen Wesenszug wohl nennen – steht nicht zufällig die Gesamtdarstellung der Jüdischen Gemeinde Kassels, an welcher einer der beiden Redakteure der Wochenzeitung (J. Dalberg) beteiligt war.

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Politisch fällt die Nähe zur demokratischen Republik auf, die sich durch alle Jahrgänge der Wochenzeitung hindurch beobachten lässt. „Juden in Stadt und Land erfüllt Eure Wahlpflicht. Jede nicht abgegebene Stimme schadet uns. Stimmt für die Republik!“ - dies waren die ersten Sätze der Wochenzeitung vor den Dezember-Reichstagswahlen 1924.

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Schließlich fällt ab 1928 eine scharfe Auseinandersetzung mit dem völkischen Rassismus, insbesondere mit dem Nationalsozialismus auf. Beiträge aus der „Weltbühne“ und der „Frankfurter Zeitung“ werden übernommen,  . . . .

In vielen Beiträgen kommt die Unterstützung für das zionistische Projekt der Siedlungsgründung in  Palästina zum Ausdruck.  Darüber hinaus enthält die Zeitung eine Fülle von Veranstaltungsankündigungen, Berichte aus dem Vereinsleben, Familiennachrichten und Geschäftsanzeigen, darunter auch für den Lebensmittelladen der Familie Kaufmann.

Im Juli 1931 zieht die Familie in das Haus Kölnische Straße 77, das sie bereits in 1927 erworben hat. Sie bewohnen im 1. Stock eine 5-Zimmerwohnung. Im Erdgeschoß ist eine Kolonialwarenhandlung. Die anderen Etagen sind vermietet. Das Eigentum an diesem Haus verlieren sie in 1934 durch Zwangsversteigerung.

Im Herbst 1933 verlässt die Familie mit 3 Kindern – 2, 9 und 11 Jahre alt – Kassel. In Blankenberge (Nordseeküste Belgien) verbleiben sie ein Vierteljahr um dann von Cannes (Südfrankreich) aus, eine Schiffspassage nach Haifa buchen zu können.

etwa 1938 in Palästina  Vater Sally mit Benno, Micha und Martin


Der Neuanfang in Palästina war kein Zuckerschlecken. Erst nach zwei Jahren fand Sally im Buchhandel den Einstieg für eine neue Existenz und war zuletzt Inhaber eines Buchladens. Sally Kaufmann ist 1956 in Givatajim (östl. von Tel Aviv) gestorben.

Seine Frau Helene starb 1969 im Alter von 72 Jahren. Sie hat Enkel und Urenkel aufwachsen sehen.

Von den 3 Söhnen hat der heute noch in Tel Aviv lebende Martin Kaufmann (95) einige Jahre als Heranwachsender im Kibbuz nahe dem Golan verbracht. Er diente in der Jüdischen Brigade der Britischen Armee und hat als Soldat in Italien und Österreich gegen die Hitlerwehrmacht gekämpft. Nach der Gründung Israels war er als Korrespondent in der Bundesrepublik tätig. Später arbeitete er im diplomatischen Dienst in Österreich.

Im Dezember 2016 schreibt er Vielen Dank fuer Ihre Mail und Ihr Interesse und Anstrengungen das Andenken ehemaliger Kasselaner zu wuerdigen.

Benno hat im Bücherladen von Vater Sally gearbeitet. Er war zuletzt pflegebedürftig und ist 2017 gestorben. Michael war im Archiv der Armee tätig. Er ist 2012 gestorben.

 

Die Stolpersteine für Sally, Helene, Martin, Benno und Michael sind von Daniela Epstein angeregt worden. Sie lebt und arbeitet in Jerusalem und ist Sallys Großnichte. Auf ihre Veranlassung liegen weitere Stolpersteine für die große Kaufmann-Familie, darunter auch für Sally Kaufmanns Brüder Abraham, Siegmund und Moses in Frankfurt, die ermordet worden sind.

 

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