Schon mit der Übertragung der Kanzlerschaft an Adolf Hitler und der Bildung einer Regierung aus Nationalsozialisten und Deutsch-Nationalen setzte auf der lokalen Ebene ein Prozess der
Machtergreifung ein, der seit dem 30. Januar auch offen gewalttätig war. Weder bei den Reichstagswahlen am 5. März noch bei den Kommunalwahlen eine Woche später erreichten die Nationalsozialisten
die von ihnen erwartete absolute Mehrheit. Dennoch demonstrierten sie bereits am 6. und 7. März ihren alleinigen Machtanspruch durch die Hissung der Hakenkreuzfahne auf öffentlichen
Gebäuden – so auch dem Rathaus. Was hier vielleicht noch demonstrativen Charakter hatte, mündete in einen Boykott gegen Juden und eine Welle der Gewalt gegen politische Gegner und
Unliebsame, die Ende März mit dem Mord an dem jüdischen Rechtswalt Max Plaut seinen Höhepunkt fand.
Jenseits aller gesetzlichen Grundlagen und auch der inzwischen geschaffenen Ausnahmegesetze wie der Reichstagsbrandverordnung ging es den Nationalsozialisten auf der lokalen Ebene um die
Machtergreifung in den öffentlichen Institutionen – dabei auch im Bereich der Kultur. Gegen das Staatstheater entfachte ihre Zeitung, die Hessische Volkswacht, bereits seit Mitte Februar eine
propagandistische Hetze unter der Parole: „Kein Jude darf am Staatstheater bleiben.“ Roland Freisler selbst, der spätere Präsident des Volksgerichtshofes, schrieb hier in „besonders markanter und
ultimativer Form“: „Immer wieder haben wir während der Kämpfe der letzten Jahre darauf hingewiesen, in welch unerhörter Weise die deutsche Kunst durch ausländischen, rassefremden Einfluss
zerstört wird.“ Er forderte schließlich im Hinblick auf das Staatstheater, „dass ausnahmslos jeder Platz, auf dem sich jetzt rassefremde Bühnenkünstler befinden, frei gemacht wird für hungernde
deutsche Bühnenkünstler“ (Hessische Volkswacht, 15.2.33).
Zielscheibe dieser Angriffe waren zunächst der Dramaturg Dr. Franz Mirow, die Opernsängerin Ljuba Senderowna und der Kapellmeister Werner Seelig-Bass, dann auch der Sänger im Opernchor Santo
Hornblass, die der antisemitischen „Säuberung“ zum Opfer fallen sollten. Ende März 1933 zielten die Angriffe aber auch auf die Schlüsselposition des Theaters, den Intendanten. Edgar Klitsch, erst
seit 1932 in dieser Position, wurde auf Druck der kulturpolitischen Abteilung des Gaus Kurhessen der NSDAP beurlaubt und durch den überzeugten Nationalsozialisten und Operettentenor Willi
Schillings ersetzt. Hatte man Klitsch vorgeworfen, kein hundertprozentiger Nationalsozialist zu sein und in seinem Ensemble „Fremdrassige“ verpflichtet zu haben, so betonte Schillings bei seiner
Ernennung Ende März, dass er „mit dem ganzen Fanatismus, der ihm als Nationalsozialisten eigen sei“, für das Theater arbeiten werde, wie die Kasseler Post am 27. März schrieb. Bei der pompös
inszenierten Übergabe des Staatstheaters an das „neue Deutschland“ marschierten SA, Stahlhelm sowie Vertreter des Heeres und von Wehrverbänden in Uniform auf. Der Intendant beendete die Feier in
SA-Uniform mit einer Ehrung für die Toten der NS-Bewegung vor dem Gebäude, das mit einem riesigen Hakenkreuz versehen worden war. Seine ersten Aktionen richteten sich dann gegen die jüdischen
Ensemblemitglieder.
Das Staatstheater in der NS-Zeit - "Ein Volk, ein Reich, ein Führer"
Nusyn Hornblass, 2. Tenor im Opernchor des Staatstheaters, wurde von der lokalen Presse nicht wie andere jüdische Ensemblemitglieder öffentlich an den Pranger gestellt. Gleichwohl erhielt er bereits seit dem 21. März 1933 ein Auftrittsverbot, das seine Karriere in Deutschland beendete. In einem Schreiben der Theaterverwaltung hieß es: „Im Einvernehmen mit der Intendantur sind Sie vom heutigen Abenddienst befreit. Ich bitte Sie, auch nicht im Theater zu erscheinen“ (zit. nach Fritz).
Hornblass war am 28. Mai 1894 in Warschau geboren und hatte in den zwanziger Jahren an Theatern in Elbing, Stralsund, Essen und Zwickau sowie an der komischen Oper in Essen gearbeitet. 1926 kam er nach Kassel, wo er 1927 Margarete geb. Keil heiratete, die aus Elbing stammte. Zwei ihrer vier Kinder kamen in Kassel zur Welt. In Kassel erhielt Santo Hornblass die deutsche Staatsbürgerschaft. Das nutzte ihm ebenso wenig wie die evangelische Religionszugehörigkeit seiner Frau, die gleichfalls die deutsche Staatsbürgerschaft besaß, bei seinen verzweifelten Versuchen, seine Weiterbeschäftigung zu erreichen
Im Mai 1933 bat er darum, „die Zustimmung der Gauleitung über mein Verbleiben am Theater einzuholen, damit die Ungewissheit für mich ein Ende nimmt. (…) Es ist mir fast unmöglich, in dem jetzigen
Zustand zu verharren. Ich bin mit meinem Nervenzustand durch die geschaffenen Verhältnisse vollkommen herunter“ (zit. nach Fritz).
In diesem Bemühen erfolglos, blieb Hornblass und seiner Familie nur die Flucht ins Ausland. Seine Kasseler Meldekarte vermerkt für den 27.11.1933 die Abmeldung nach Brüssel. Das American Joint Jewish Distribution Comittee,
eine 1914 gegründete jüdische Hilfsorganisation, verhalf der Familie dann 1934 dazu, ins Exil nach Brasilien zu gelangen.
Hier konnte Nusyn Hornblass zunächst noch als Liedersänger den Lebensunterhalt für die Familie sichern, was ihm nach dem Tod seiner Frau 1939 und einer fehlenden Kinderbetreuung im fremden Land später nicht mehr möglich war. Die Familie blieb auf die Unterstützung jüdischer Hilfsorganisationen und den Ertrag von Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Im Entschädigungsverfahren kam es lediglich zu einer unbedeutenden Rente, die erst 1971 erhöht wurde, zehn Jahre, bevor Nusyn Hornblass am 28. Juni 1981 in Sao Paulo starb.
Wolfgang Matthäus Juni 2015
Quellen und Literatur
Hessische Volkswacht vom 16.2.1933, 5.3.1933, 9.3.1933, 4.4.1933
StadtA Kassel, Meldekarte Santo Hornblass
Sven Fritz, Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untragbaren“ aus den Theatern Wiesbaden, Kassel, Mainz und Gießen, in: Hannes Heer / Sven Fritz / Heike Drummer / Jutta Zwilling, Verstummte
Stimmen. Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untragbaren“ aus den hessischen Theatern 1933 bis 1945, Berlin 2011
Christiane Engelbrecht u. a., Theater in Kassel, Kassel 1959
Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit -http://www.lexm.uni-hamburg.de .