Sophie Heymann – verheiratete Adler – ist an Sylvester des Jahres 1882 in Ahrweiler geboren. Ihre Eltern waren Joseph und Marianne Heymann, die in Ahrweiler ein gut gehendes Textilgeschäft führten. Die Heymanns gehörten zu einer alteigesessenen, verzweigten Familie. Sophie hatte vier Schwestern und einen Bruder. Die Schwestern Illa und Rosalie sind deportiert und ermordet worden. 1912 heiratete sie den aus Kassel stammenden Schuhhändler Sally Adler.
Sally ist 1875 in Kassel geboren. Seine Eltern waren der Fellhändler Simon Adler und Hanna Bacharach. Sallys Mutter Hanna(1843 – 1923) stammte aus Rhina bei Hünfeld, Ende des 19. Jahrhunderts der einzige Ort im Deutschen Reich mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit. Sally hatte vier Geschwister: Sophie (1868 – 1888), Abraham (1869 – 1917), Carl (1871 – 1929) und Robert 1881–1942 (deportiert nach Riga und ermordet).
Schon 1867 war Vater Simon als Fellhändler in Cassel ansässig, seit 1870 als Hausbesitzer in Müllergasse 2 in der Altstadt. Neben Fellen wird auch mit Schuhen, en gros und en detail, gehandelt. Zum Teil haben die Adlers zwei Firmensitze, die Fellhandlung in der Holländischen Straße, der Schuhhandel in der Müllergasse. Nach dem Tod des Firmengründers um 1900 firmiert das Unternehmen als Gebrüder Adler mit den Inhabern Abraham, Karl, Sally und Robert mit der Telefonnummer 737. Ein Foto zeigt das Geschäftshaus in der Müllergasse, Ecke Pferdemarkt. Vor dem Laden haben sich Inhaber, Hausbewohner und Kunden aufgestellt. Ein Teil der Familie wohnt hier.
Ab 1912 – dem Jahr der Eheschließung – wohnen Sally und Sophie am Holländischen Platz in dem Eckhaus Wolfhager Straße 2, gegenüber dem noch heute existierenden Verwaltungsgebäude von Henschel & Sohn, während alles andere drumherum in Schutt und Asche gefallen ist. Laut Adressbuch hatten sie eine Wohnung im 1. Stock. Hier sind auch die Kinder der Familie geboren. Martha 1913, Ilse 1916, Kurt Simon 1918 und Rudolf 1920. Vielleicht ging ihr Weg zur Jüdischen Volksschule in der Großen Rosenstraße von der Haustür über Gießbergstraße, Lutherplatz, Bahnhofstraße. Am Sabbat war es nur ein Katzensprung zur Synagoge in der Königsstraße. In späteren Jahren war der Weg für die beiden Jungen zum RG II in der Schomburgstraße nur 10 Minuten. Kaufmann Sally konnte die beiden Geschäftslokale, Felle in der Holländischen und Schuhe Müllergasse, problemlos erreichen.
Die erstgeborene Tochter Martha wurde nur 22 Jahre. Sie starb 1936 an Leukämie.
Ilse – Jahrgang 1916 trat nach der Schule eine Lehre in Ahrweiler im Textilgeschäft Heymann an, das zu dieser Zeit von ihrer Tante Meta geführt wurde. Ab Dezember 1934 war sie wieder zurück.
Kurt Simon, JG 1918, schreibt: „Im April 1928 trat ich in das Realgymnasium II Schomburgstraße ein. … Als es aber in 1933 für Juden zu schwierig war, in dieser Anstalt zu verbleiben, verließ ich das RG II mit Untersekundareife. Danach konnte ich nur minderwertige Beschäftigung finden …“.
Rudolf, JG 1920, schreibt: „In 1933 when Hitler zur Macht kam war ich 13 Jahre alt und besuchte die Schule Realgymnasium II. Ich wurde bald informiert die Schule zu verlassen. Ich ging noch ein Jahr in die Jüdische Schule in Kassel und dann nach Frankfurt, und in 1937 in das Rabbiner Seminar zu Berlin. Obwohl meine Bildung nicht vollkommen war, hat mich das Seminar genommen, weil ich sehr gut in den jüdischen Fächern war …“.
1930 ist die Firma Gebrüder Adler letztmalig im Adressbuch eingetragen. Im selben Jahr meldet sich Robert Adler, Sallys Bruder und bis dato Mitinhaber nach Leipzig ab. Deshalb kann davon ausgegangen werden, dass die Firma erloschen ist. In der Müllergasse 2 befindet sich im EG und im 1.Stock ein Unternehmen namens Kasseler Kleiderbörse.
Im Zuge der Naziverfolgung suchen die Adlers zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedlichen Wegen dem Druck durch Emigration zu entkommen. Tochter Ilse macht den Anfang und meldet sich am 26.3.1937 ab nach Holland. Die Abmeldung von Sally und Sophie trägt das Datum 24.12.1938 mit Ziel Amsterdam. Eltern und Tochter waren während ihres Exils in Kontakt. Ilse hat so gut es ging ihre Eltern unterstützt. Sally ist am 20.7.1940 im Alter von 65 Jahren als Emigrant an einem Herzanfall gestorben. Sophies letzte Wohnadresse in Amsterdam war Uiterwaardenstraat 86, während Ilse bei einer Amsterdamer Familie als Kindermädchen arbeitete und wohnte.
Am 11. Mai 1943 ist Sophie Adler in das Polizeiliche Durchgangslager Westerbork eingewiesen und 18. Mai nach Sobibor deportiert worden. Todesdatum 21.5.1943. Seit 2015 liegt in Ahrweiler vor ihrem Geburtshaus ein Stolperstein.
Ein halbes Jahr später kam auch Tochter Ilse ins Lager Westerbork. Von dort wurde sie im Februar 1944 nach Bergen Belsen deportiert. Fast ein Jahr arbeitete sie in Bergen-Belsen als Krankenschwester Am 21. Januar 1944 ist sie mit einem Austausch-Transport via Schweiz nach Algerien gereist. Diese Freilassung gehörte zu einem Manöver der NS-Führung durch Entlassung bzw. Überstellung von KZ-Gefangenen einen Separatwaffenstillstand im Westen zu erreichen. Das ist nicht aufgegangenen. Ilse und manche andere haben davon profitiert. Die Zustände in Bergen-Belsen waren katastrophal. Tausende sind noch nach der Befreiung 1945 gestorben. Ilse ist dann nach langer Irrfahrt aus Algerien nach Palästina gekommen. Sie heiratet Herbert Philipp aus Hamburg und hat mit ihm die Kinder Chava und Shula. Sie starb 2007.
Kurt Simon verließ das Land im Juli 1938 via Zürich nach den USA. Im Entschädigungsverfahren des Jahres 1957 schildert er seine Situation nach der Ankunft in den USA: „In Amerika war ich genötigt durch Hausieren meinen Lebensunterhalt zu verdienen.“ Er heiratet in New York Ilse Farntrog und hat mit ihr 6 Kinder.
Rudolf Adler ist 1938 nach England geflohen. Nach Kriegsbeginn wurde er als feindlicher Ausländer interniert und später nach Kanada abgeschoben. Erst 1942 endete die Internierung. Er hat dann in Kanada sein abgebrochenes Rabbinerstudium wieder aufgenommen. Nach 4 Jahren in Hamilton, Toronto und New York übersiedelte er in die USA. Von 1960 bis 1990 war er Rabbi der Ohev Shalom Gemeinde in Orlando/Florida. Er war verheiratet mit Rose und hatte mit ihr 3 Kinder. Rabbi Rudolf Adler ist 2016 gestorben
Die Stolpersteine sind von Dr. Shula Arzy aus Israel angeregt worden. Sie ist die Tochter von Ilse Philipp, geb. Adler.
Deportation aus Westerbork - Häftlinge in Bergen-Belsen nach ihrer Befreiung 1945.
Quellen
Beate Kleiner und Wolfgang Prinz, Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945, Hg. Stadt Kassel 1986
Bundesarchiv
Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden
Stadtarchiv Kassel
Meldeakten | Hausstandsbuch Müllergasse 2 |Adressbücher Kassel
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Entschädigungsakten Adler, Bestand 518, Nr. 20036 + 27068 + 88140
Helmut Thiele, Die Jüdischen. Einwohner zu Kassel 1700-1942
AW-Wiki zur Biografie Sophie Adlers
Blick aktuell (Bad Neuenahr) vom 3.9.2019: Erinnerung an eine Ahrweiler Familie
Matthias Bertram, ... in einem anderen Lande. Geschichte, Leben und Lebenswege von Juden im Rheinland, Düren 2015
Fotos zur Familie: Matthias Bertram, Ahrweiler
Jochen Boczkowski, November 2020