Wilhelm Kleinschmidt

Kaufunger Straße 14 (anstelle 17)

 

AKTION T 4 steht auf dem Stolperstein von Wilhelm Kleinschmidt in der letzten Zeile. Es ist die nach der Befreiung vom Faschismus gebräuchliche Bezeichnung für die systematische Ermordung von Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen. Sie leitet sich von der Postadresse einer Villa in Berlin, Tiergartenstraße 4 ab. Dort befand sich die Zentrale der Tötungsaktion. Mehr als 70 000 Frauen und Männer sind in den Jahren 1939 bis 1941 aus vielen Heil- und Pflegeanstalten selektiert, über Zwischenanstalten in Mordanstalten verlegt und ermordet worden. Bei der Selektion wurden Patienten mit folgenden Diagnosen oder Kriterien ausgewählt, zum Beispiel Schizophrenie, Epilepsie, Encephalitis, Schwachsinn, Paralyse, Menschen, die schon länger als fünf Jahre in der Anstalt waren, kriminelle „Geisteskranke“, Menschen nicht deutscher Staatsangehörigkeit oder nicht „deutschen oder artverwandten Blutes“.

Das Verbrechen war eingebettet in die rassistische Naziideologie der Verhinderung von erbkranken Nachwuchs und der „Aufnordung“ des deutschen Volkskörpers. Die Mordstätten waren Hadamar, Grafeneck (Baden-Württemberg), Brandenburg/Havel, Hartheim (Österreich), Sonnenstein (Sachsen), Bernburg (Sachsen-Anhalt). Nach der Tötung wurden die Angehörigen durch Sterbeurkunden mit erfundenen Krankengeschichten und Todesursachen getäuscht. Zur Verschleierung der Sterbeorte wurde z.B. die Post von Hartheim mit dem Briefkopf von Brandenburg versandet. Es gab sogar ein Kurierauto für Aktenverschiebungen zwischen den Anstalten. Den Kostenträgern wurden Rechnungen für Quartier, Kost und Pflege über Wochen und Monate ausgestellt, obwohl die Personen sofort bei ihrer Ankunft getötet wurden.

Die Aktion T4 wurde auf Grund von Protesten im August 1941 eingestellt.

Bereits 1939 sind mindestens 5000 vermeintlich erbkranke, kognitiv oder körperlich beeinträchtigte Kinder in Kinderfachabteilungen getötet worden.

Die Krankenmorde in der NS-Zeit werden in Phasen geteilt:

- Kinder-„Euthanasie“ von 1939 bis 1945

- Erwachsenen-„Euthanasie“ von 1939 bis 1945

      - Aktion T4 zentral gelenkte Vergasungen von Januar 1940 bis August 1941

      - Medikamenten-„Euthanasie“ oder Tötung durch Unterernährung 1941 - 1945

 - Invaliden- oder Häftlings-„Euthanasie“, bekannt als „Aktion 14f13“ 1941 bis 1944

 - „Aktion Brandt“ von Juni 1943 bis 1945.

Durch die Tötung von Kranken wurde im Krieg auch Pflege- und Bettenkapazität für verwundete Soldaten freigemacht. Nach neuesten Schätzungen fielen dem „Krieg gegen die Kranken“ etwa 260.000 Menschen zum Opfer.

Einer von ihnen war Wilhelm Kleinschmidt, geboren am 2. Mai 1900 in Kassel-Unterneustadt, Am Holzmarkt 12. Seine Eltern waren der Schuhmachermeister Heinrich Kleinschmidt und dessen Ehefrau Anna Elisabeth, geb. Pfahl. Sie besaßen dort ein Haus. Im Erdgeschoss des Hauses befand sich neben der Werkstatt auch das Schuhgeschäft mit Schaufenster. Er hatte noch zwei Brüder. Hier am Holzmarkt verbrachte Wilhelm seine Kinderjahre. Sein Weg zur Unterneustädter Schule am Kirchplatz waren nur ein paar Schritte. Nach der Schule hat er eine Schlosserlehre absolviert und in diesem Beruf auch einige Jahre gearbeitet. Später war er viele Jahre als Strom- und Gasableser mit Inkassovollmacht bei den Städtischen Werken tätig.

1922 haben der Schlosser Wilhelm Kleinschmidt und die Weberin Martha Elisabeth Siemon aus Kassel, damals 20 Jahre alt, geheiratet. Sie haben im Hause Holzmarkt im Dachgeschoss gewohnt. In der Ehe sind 3 Kinder geboren. Wilhelm 1920, Karl 1924 und Giselinde 1936.

 

Im Jahr 1933 ist die Familie in die Kaufunger Straße umgezogen. Im 2. Stock des Hauses Nummer 17 haben sie eine passendere Bleibe gefunden.

Ab 1935 treten nach einer Kopfgrippe psychische Beeinträchtigungen auf, die nach ärztlicher Einweisung Aufenthalte im Karlshospital, den Landesheilanstalten Marburg und Haina nach sich ziehen. Entlassungen und Wiedereinweisungen wechseln sich ab. Ein Einblick in die Zustände in den Anstalten gibt eine Passage aus dem Entschädigungsantrag Marta Kleinschmidts aus dem Jahre 1956: „Wiederholt habe ich bei dem Direktor der Heilanstalt Haina Beanstandungen über das schlechte Aussehen meines Ehegatten und die schlechte Verpflegung Klage geführt. Hier wurde mir von diesem Herrn kurzum geantwortet: ... was denken Sie sich von hier, schließlich sind die Kranken nicht zum Mästen hier.“

Letzten Endes wird er im Juni 1941 von Haina nach Idstein verlegt. Der Kalmenhof in Idstein diente in diesem Fall als Zwischenstation auf dem Weg in die Mordanstalt Hadamar. Das Hin- und Hergeschiebe der Patienten diente der Verschleierung der Verbrechen. Aus Heina sind 441 Patienten ‚verlegt‘ und 411 in der Gaskammer ermordet worden.

Marta Kleinschmidt schreibt 1956 im Entschädigungsantrag:

"Nach 10 Tagen erhielt ich die Nachricht von einer gut überstandenen Reise und Ankunft in der Anstalt Hadamar mit dem mysteriösen Vermerk, daß Besuche und Pakete . . . bis auf weiteres unerwünscht seien“ und „Am 11.Juli 1941 erhielt ich die erschütternde Nachricht, dasß er am 7.7.1941, 0:45 Uhr an Angina mit Sepsis plötzlich verstorben sei. Die Leiche sei sofort eingeäschert worden“

Ihre Söhne waren zu diesem Zeitpunkt im Krieg ab 1940, was für die Mutter besonders schwer war, weil sie das Leid mit dem Ehemann und das Leben mit der kleinen Tochter stemmen musste. Mutter und Tochter wurden nach den Bombenangriffen in Kassel nach Hofgeismar evakuiert.

 

Der Antrag der Witwe Marta Kleinschmidt auf Entschädigung und Rente nach dem Bundesentschädigungsgesetz wurde abgelehnt, weil

1. der Antrag zu spät eingereicht worden sei.

2. nicht nachgewiesen sei, dass der Ehemann aus einem der im Gesetz angeführten Gründe (NS-Verfolgung) gestorben sei.

3. die Antragstellerin durch ihre Mitgliedschaft zur NS-Frauenschaft … überhaupt kein Recht auf Wiedergutmachung hat.

Die Nachkommen der Opfer der Krankenmorde und Zwangssterilisation sind über Jahrzehnte in diskriminierender Weise außen vor geblieben. Erst ab 2011, als viele von ihnen schon verstorben waren, sind gesetzliche Regelungen zur Entschädigung von Angehörigen getroffen worden.

 

Der Landeswohlfahrtsverband und die Vitos GmbH als Träger der Psychatrieeinrichtungen in Hessen und Nachfolger der Landesheilstätten haben 2019 die Gedenkschrift GESCHICHTE UND GEDENKEN herausgegeben. In ihr werden die Krankenmorde in hessischen Einrichtungen dargestellt. Dabei werden auch 4 Menschen vorgestellt, die ermordet worden sind, darunter Wilhelm Kleinschmidt. Über die Gedenkstätte Hadamar ist ein Kontakt zu Angehörigen zu Stande gekommen und mit ihrer Zustimmung ein Stolperstein in der Kaufunger Straße errichtet. Nachstehend der Artikel über Kleinschmidt.

 

Aus GESCHICHTE UND GEDENKEN Orte der „Euthanasie“-Verbrechen in Hessen

Herausgeber: Landeswohlfahrtsverband Hessen Vitos GmbH Ständeplatz 2−10, 34117 Kassel

© 2019 Landeswohlfahrtsverband Hessen

 

Weitere Quellen:

Adressbücher Kassel

Entschädigungsakte Kleinschmidt, HHStAW 518, 66846

Schriftliche Auskünfte der Angehörigen

 

Die Patenschaft für den Stolperstein hat der Ortsbeirat Unterneustadt übernommen

 

Jochen Boczkowski, November 2020

 

 

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