Willi Schiftan ist am 13. Januar 1896 in Breslau geboren. Nach der Volksschule machte er eine Lehre als Schreiner. Als Soldat im Weltkrieg I wurde er verwundet. Im Alter von 28 Jahren ist er als Schreinergeselle auf der Wanderschaft hier nach Kassel gekommen, das war 1924. Eine seiner ersten Wohnadressen war Quellhöfe 48 bei Minna Brechel, Witwe, Jg. 1890, im 1. Stock. Willi und Minna haben am 10. Juni 1926 geheiratet. Laut Meldekarte sind sie 1927 in die Altstadt in eine Wohnung des Hinterhauses Graben 47 gezogen. Dann sind Kinder gekommen. Rosel 1928, die Zwillinge Bruno und Werner 1930 und Herbert 1934. Das war unter den schlechten Wohnverhältnissen und Arbeitslosigkeit kein leichtes Leben. Aus der Meldekarte ist zu entnehmen, dass der Säugling Werner im Alter von 5 Monaten vorübergehend im städtischen Wohlfahrtsheim Luisenstraße 2 untergebracht worden ist. Vermutlich wegen einer Krankheit, die in der engen Altstadtwohnung nicht kuriert werden konnte. Im Graben wohnten sie 10 Jahre bis 1937. Das Haus existiert heute nicht mehr.
Aus dem Kasseler Gedenkbuch "Namen und Schicksale der Juden Kassels" erfahren wir, dass Willi Schiftan 1922 Mitglied der KPD wurde und seit 1928 Mitglied der Roten Hilfe war. Die Rote Hilfe diente der solidarischen Unterstützung politischer Aktivisten, die von der Klassenjustiz verfolgt wurden. Von 1931 bis 1933 war er Sprecher einer Interessengemeinschaft jüdischer Erwerbsloser. Nach der Machtübertragung an die Nazis stellte er seine poltischen Aktivitäten nicht ein. Im Geheimen beteiligte er sich mit seinen Genossen an Aktionen gegen das NS-Regime. Er kam in U-Haft und wurde am 6. August 1936 vom Oberlandesgericht Kassel wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt. Mit ihm wurden 10 weitere Genossen aus Kassel zu insgesamt 35 Jahren Haft verurteilt. Die Mitangeklagten waren Heizer Wilhelm Pfromm, Packer Hans Hinz, Schlosser Fritz Dornemann, Elektriker Franz Buda, Kaufmann Willi Paar, Arbeiter Christian Stephan, Fensterputzer Otto Pfromm, Dreher Max Mayr und Arbeiter Franz Kramer. Willi Schiftan verbüßte seine Strafe im Zuchthaus Wehlheiden bis zum 25.1.1940.
Während der Haft war Ehefrau Minna mit den 4 Kindern auf sich allein gestellt. 1937 musste sie die Wohnung Graben 47 aufgeben und zog in die städtische Unterkunft Zentgrafenstraße 17 in Kirchditmold. Die Lage verschärfte sich in 1940. Sie wurde jetzt als Ehefrau eines Juden mit den Kindern in die Judenbaracke Zentgrafenstraße 5 ½ gezwungen. Die Anfang der 1930-er Jahre für Obdachlose gebauten Baracken wurden ab 1939 auch genutzt, um die aus ihren Wohnungen vertriebenen Juden auf engstem Raum zusammenzufassen. Dazu gehörten wie im Fall Schiftan auch Frauen mit Kindern aus sogenannten Mischehen. Später wurden zahlreiche dieser Menschen zunächst in das Lager Wartekuppe (Niederzwehren) gezwungen und mit vielen anderen Kasseler Juden nach Riga und Theresienstadt deportiert. Minna Schiftan muss in dieser Zeit von den faschistischen Behörden unter Druck gesetzt worden sein, sich von ihrem im Konzentrationslager inhaftierten Mann, Jude und Kommunist zugleich, zu trennen. Sie konnte diesem Druck nicht widerstehen, denn ab 1941 führte sie wieder den Namen Brechel. Am 30.8.1941 zieht sie aus der Baracke wieder um in die Zentgrafenstraße 17.
Über Willi Schiftans Schicksal gibt die Häftlingspersonalkarte aus dem KL Mauthausen Auskunft:
Der Evakuierungsmarsch Auschwitz nach Mauthausen und dann weiter nach Ebensee dürfte seine letzten physischen Reserven aufgezehrt haben, sodass er dort mehr tot als lebendig ankam.
Im Totenbuch Mauthausen ist sein Tod am 9.4.1945 protokolliert. Er wurde keine 50 Jahre alt. Die Eintragungen im 10-Minutentakt spiegeln vor, als wäre sein Gesund-heitszustand fürsorglich wie in einem Krankenhaus überwacht worden.
Zweck der Errichtung des Lagers Ebensee war der Bau unterirdischer Fabrikhallen zur Forschung und Entwicklung von Raketen. Zwischen dem 18. November 1943 und dem 6. Mai 1945 wurden laut Lagerstandsbuch insgesamt 27.278 männliche KZ-Häftlinge in das Lager Ebensee eingewiesen. Rund 8.200 Häftlinge kamen hier während der KZ-Haft ums Leben.
Von Willi Schiftans 4 Kindern lebt keines mehr. Aber ein Enkel und eine Enkelin leben und arbeiten in der Region.
Quellen:
StadtA KS: Meldekarte Schiftan, A 3.32 HB 677 Zentgrafenstr. 5 ½
Adressbücher Kassel
Gedenkbuch Namen und Schicksale der Juden Kassels
Gedenkbuch Bundesarchiv
Gedenkportal Yadvashem
Willi Belz, Die Standhaften,1978
Archiv Gedenkstätte Mauthausen: AMM_Y_46b_011675-011703 + AMM_HPK_NARA_S_00577r (Abb. oben)
Es gibt im Gedenkportal Yad Vashem für Willi Schiftan aus Kassel und seinen Bruder Siegfried Schiftan, JG 1898 aus Chemnitz, Gedenkblätter. Sie sind 1982 von ihrer Schwester Erna Arai, geb. Schiftan errichtet worden.
Jochen Boczkowski, März 2016