* 16.7.1931 Marburg + 30.9.1944 Hadamar
Wo sollen wir einen Stein verlegen?
Gunter Demnig sagt: Dort, wo der letzte freiwillig gewählte Lebensmittelpunkt (Wohnung, Arbeitsplatz) lag, damit die Erinnerung an die Opfer und ihre Geschichte dort lebendig werden, wo sie zu Hause waren.
Das ist schwierig bei kleinen Kindern, die eigentlich nie eine Wahl hatten. Und noch schwieriger ist es, wenn die kleinen Kinder aufgrund von Krankheiten oder Behinderungen größtenteils in Heimen untergebracht waren. Da könnte dann das zweite Kriterium für Demnig, nämlich dass die auseinandergerissenen Familien wieder zusammengeführt werden sollen, zum Tragen kommen. Aber was macht man mit Kindern, die überhaupt nie bei ihrer Familie gewohnt haben, obwohl die Eltern das gerne gewollt hätten? Und was, wenn für die Eltern keine Steine verlegt werden, da sie selbst nicht direkt Opfer der Verfolgung wurden?
Helmut Völker ist so ein Fall. Er wurde am 16. Juli 1931 in Marburg geboren und verbrachte fast sein ganzes Leben in Heimen. Die ersten Jahre davon zusammen mit seiner noch minderjährigen Mutter Ottilie Johanna Gertrud Völker im Mädchen- und Kinderheim Bethesda in Marburg. Ottilie Völker ist mit 13 Jahren das Opfer einer Vergewaltigung geworden.
Als Ottilie gezwungen wurde, eine landwirtschaftliche Stelle anzutreten, musste sie ihren Sohn alleinlassen (mehr zu Ottile weiter unten) Helmut blieb zunächst weiter im Kinderheim, bevor er nach Hephata, Treysa verlegt wurde. Dass die Trennung von seiner Mutter nicht spurlos an ihm vorüberging, kann man sich denken.
Auch wenn man der Mutter mitteilt, dass es "ihm gesundheitlich gut geht" und er "munter und vergnügt " sei, rät man ihr mehrfach davon ab, ihn nach Hause zu nehmen. "
Wenn irgendetwas aus Helmut werden soll, so ist das nur im Rahmen der Anstaltserziehung möglich." Die ärztlichen Gutachten zeigen jedoch, dass man eher daran interessiert ist, den Jungen loszuwerden. Er wurde nach Hephata, Treysa verlegt, wieder nach Marburg zurück (in die Landesheilanstalt Cappeler Straße), dann in die Landesheil- und Erziehungsanstalt Scheuern bei Nassau / Lahn und 1944 nach Haddamar. Man diagnostiziert "Schwachsinn mittleren Grades" und eine Reihe anderer größtenteils nicht überprüfbarer körperlicher Befunde. Man glaubt "völlige Asozialität und sexuelle Frühreife" zu erkennen, worin "eine schwere Gefahr für unser Heim besteht", weil er die anderen Kinder anstecken könnte. Und folgert: "Daher ist es dringend notwendig, dass der Junge
möglichst bald aus unserem Heim entfernt und einer Idiotenanstalt zugeführt wird." In einer Akte wird seine Rasse als "ostisch" angegeben. Damit war er von offizieller Seite als "unwertes Leben" abgestempelt. In Scheuern schließlich wird er als erbkrank eingestuft und am 2. September 1944 in die Landesheilanstalt Hadamar bei Limburg verlegt. Diese ist seit 1941 eine reine Tötungsanstalt, in der zunächst im Rahmen der sogenannten Aktion T4 und danach bei der "dezentralen Euthanasie" ca. 14.500 Menschen getötet wurden (in den ersten Jahren in der Gaskammer im Keller der Anstalt, später durch gezielte Mangelernährung bis zum Hungertod sowie Verabreichung von Überdosen von Medikamenten). Angebliche Krankheiten - zufällig ausgewählt aus einer langen Liste möglicher Todesursachen - sollen die Morde verschleiern.
Bei Helmut Völker wird in die Akte "erkrankt an Pneumonie, Fieber, Herzschwäche" eingetragen und "erholt sich nicht mehr, heute Exitus". Als Todesdatum wird der 30.9.1944 genannt, doch auch diese Eintragung ist vermutlich gefälscht, da man zum einen nicht auffällig viel Tote am selben Tag in den Listen wollte und möglicherweise ein paar Tagesgelder mehr kassieren wollte.
Helmuts Mutter Ottilie hat all die Jahre viele Briefe an die jeweilige Anstalten geschrieben und Gesuche um Besuch und Urlaub gestellt, die zumeist abschlägig beschieden wurden. Nur einmal gab es einen positiven Bescheid (s.u.).
Verstehen kann man das möglicherweise ist, als sie noch minderjährig war, aber sicherlich nicht mehr, seit sie verheiratet war.
Die landwirtschaftliche Lehre, die sie antrat, fand in Kassel, wo sie auch am 2. April 1917 geboren wurde. 1937 versuchte sie, in der Klinik, wo Helmut untergebracht war (Hephata) eine Anstellung zu bekommen, um ihrem Sohn näher zu sein, was aus "grundsätzlichen" Erwägungen abgelehnt wurde.
In diesem Jahr war sie bei einem Gärtner Metz im Sommerweg 18 angestellt, wo sie auch wohnte. Für einen im Jahr 1938 beantragten achttägigen Weihnachtsurlaub für den kleinen Helmut gab sie als Unterbringungsmöglichkeit zwei Verwandte an: Karl Landsiedel, Frankfurter Straße 1 und Franz Nieft, Waisenhausstraße 48, da ihre Unterkunft bei dem Gärtner keinen Raum für ein kleines Kind bot. Dem Gesuch wurde statt gegeben, aber ob der Urlaub wirklich stattfand, ist nicht belegt.
In Kassel lernt Ottilie den fünf Jahre älteren Handwerker Walter Behrend kennen und lieben, der am 29.9.1912 in Rüstringen (Ortsteil von Wilhelmshaven) geboren wurde, aber in Kassel aufgewachsen ist.
Nachdem sie am 7. September 1940 geheiratet haben, unternehmen sie einen gemeinschaftlichen Versuch," ihren" Sohn Helmut zu sich zu nehmen.
Das junge Ehepaar (28 und 23 Jahre alt) war im Oktober 1940 in eine Wohnung in der Mittelgasse 49 gezogen und freute sich darauf, dem jetzt 9jährigen Helmut endlich bei sich aufzunehmen zu können. Es gibt eine umfangreiche Korrespondenz, die jedoch nicht von Erfolg gekrönt war. Das verwundert doch erheblich, zudem in der Klinik der "Fall" mittlerweile positiver bewertet wird.
Die Gründe dafür konnten bisher noch nicht geklärt werden, da die Jugendamtsakten in Kassel bisher noch nicht zugänglich sind.
Auf die Initiative des Geschichtsvereins Marburg e.V. wurde am 20. 4. 2008 in Marburg für Helmut Völker ein Stolperstein verlegt. Wir zitieren aus deren Gedenkblatt:
"Erkrankt an Pneumonie, Fieber, Herzschwäche", heißt es in seiner Akte, er "erholt sich nicht mehr, heute Exitus", wurde am 30. September 1944 notiert. Angebliche Krankheiten sollten die Ermordung verschleiern. Ottilie Völker erfuhr offiziell nie den wahren Grund des so plötzlichen Todes ihres Sohnes, auch wenn sie nicht aufhörte, um Antwort zu bitten. So schreibt sie: "Mein armer Junge war mir genauso viel wert, wie jeder anderen Mutter ihr Kind".
"Ein Junge, gerade mal 13 Jahre alt, verachtet als 'unwertes' Leben und Opfer unmenschlicher Ideale und einer gnadenlosen Gesellschaft." So empfinden es die beteiligten Schülerinnen und Schüler der Theodor-Heuss-Schule.
Auch wenn es in Marburg für Helmut schon einen Stolperstein gibt, wäre es schön, wenn in Kassel in der Mittelgasse 49 auch an ihn erinnert würde. Dort hat er zwar nie gewohnt.
Auf einem möglichen Stolperstein müsste dann stehen: "Hier hätte Helmut Völker gern gewohnt" oder "Hier hätte Helmut Völker wohnen können"
5.2.2020 Jürgen Strube
Quellen:
Stadtarchiv Kassel Hausstandsbücher: KS A 3.32 HB 1, 237 und 455
Landeswohlfahrtsverband (LWV) Akten AN 184 und K 16 Nr. 7525
Geschichtswerkstatt Marburg https://cms.e.jimdo.com/app/s8baea93ba70cd989/pb6a214ed432a65f5?safemode=0&cmsEdit=1